Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (81)
UNur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebensbestimmung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schaden
m Kollegiaten wie Sie tut es mir Leid. Es macht mir ganz und gar kein Vergnügen, Sie enttäuschen zu müssen. Aber so ist es.“
Ich wagte es nicht, zu Tommy hinüberzublicken. Ich selbst blieb, zu meiner eigenen Überraschung, ruhig, und obwohl Miss Emilys Worte niederschmetternd auf uns hätten wirken müssen, ließ mich etwas an ihrem Vortrag vermuten, dass noch etwas dahinter stand, dass uns etwas verschwiegen wurde; ich hatte den Eindruck, dass wir der Wahrheit noch immer nicht auf den Grund gekommen waren. Es bestand sogar die Möglichkeit, dass sie log. Deshalb fragte ich:
„Es ist also so, dass Zurückstellungen niemals vorkommen? Da können Sie gar nichts tun?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „An dem Gerücht ist nichts Wahres. Ich bedaure. Aufrichtig.“
„War es denn früher einmal wahr? Bevor Hailsham geschlossen wurde?“, fragte Tommy.
Miss Emily schüttelte erneut den
Kopf. „Es ist niemals wahr gewesen. Auch nicht vor dem MorningdaleSkandal, auch nicht, als Hailsham noch als strahlender Leuchtturm galt, als Beispiel dafür, wie wir zu einem humaneren und besseren Umgang finden könnten – auch damals war es nicht wahr. Das muss man klar und deutlich sagen. Es war Wunschdenken, mehr nicht. – Du liebe Güte, sind das schon die Leute, die wegen des Schränkchens kommen?“
Die Türglocke hatte geläutet, und jetzt kamen Schritte die Treppe herunter. In dem schmalen Flur waren Männerstimmen zu hören, und Madame tauchte aus der Dunkelheit hinter uns auf, durchquerte das Zimmer und verschwand wieder. Miss Emily beugte sich in ihrem Rollstuhl vor und lauschte aufmerksam.
„Das sind sie nicht“, sagte sie. „Das ist wieder dieser schreckliche Kerl von der Maler- und Tapeziererfirma. Marie-Claude wird sich darum kümmern. Wir haben also noch ein paar Minuten, meine Lieben. Gibt es noch etwas, worüber Sie mit mir zu reden wünschen? Das alles verstößt selbstverständlich völlig gegen die Vorschriften, und Marie-Claude hätte Sie nie hereinbitten dürfen. Und ich hätte Sie natürlich in der Sekunde fortschicken müssen, in der ich erfuhr, dass Sie hier sind. Aber inzwischen hält MarieClaude sich kaum noch an die Regeln und ich, offen gestanden, auch nicht. Falls Sie also noch ein bisschen bleiben wollen – sehr gern.“
„Wenn das Gerücht nie gestimmt hat“, sagte Tommy, „warum haben Sie uns dann immer unsere Arbeiten weggenommen? Hat die Galerie auch nie existiert?“
„Die Galerie? Nun, an diesem Gerücht war doch etwas Wahres. Es hat tatsächlich eine Galerie gegeben. Und mehr oder weniger existiert sie immer noch. Inzwischen ist sie hier, in diesem Haus. Ich musste sie reduzieren, was ich bedaure. Aber wir haben hier nicht genügend Platz für alles. Ja – warum haben wir Ihnen Ihre Arbeiten weggenommen? Ist es das, was Sie wissen wollen, nicht?“
„Nicht nur das“, sagte ich ruhig. „Warum mussten wir die ganzen Arbeiten überhaupt machen? Warum haben Sie uns unterrichtet, ermutigt, angehalten, das alles zu produzieren? Wenn wir sowieso nur spenden und dann sterben sollen, wozu die ganze Bildung? Wozu all die Bücher und Diskussionen?“
„Wozu überhaupt Hailsham?“Das kam von Madame aus dem Flur. Sie ging wieder an uns vorbei und kehrte in den verdunkelten Teil des Zimmers zurück. „Das ist eine Frage, die Sie stellen sollten.“
Miss Emilys Blick folgte ihr und verharrte einen Moment lang starr auf irgendeinem Punkt hinter uns. Ich hätte mich am liebsten umgedreht, um zu sehen, was für Blicke hier gewechselt wurden, aber es war fast so, als wären wir wieder in Hailsham und müssten mit ungeteilter Aufmerksamkeit nach vorn schauen. Dann sagte Miss Emily:
„Ja, wozu überhaupt Hailsham? Marie-Claude fragt das heute oft. Aber vor nicht allzu langer Zeit, vor dem Morningdale-Skandal, wäre es ihr nicht im Traum eingefallen, solch eine Frage zu stellen. Es wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Sie wissen, dass es stimmt, schauen Sie mich nicht so an! Es gab nur eine Person damals, die solche Fragen stellte, und das war ich. Und zwar lange vor Morningdale, schon ganz zu Anfang. Und das hat es den anderen leicht gemacht, Marie-Claude und allen anderen, sie konnten unbekümmert weitermachen. Auch Ihnen, den Kollegiaten, hat es alles erleichtert. Ich habe stellvertretend für die anderen die Fragen gestellt und mir Sorgen gemacht. Und solange ich standhaft war, kamen Ihnen keine Zweifel, Ihnen allen nicht. Aber Sie haben Ihre Fragen gestellt, lieber Junge. Beantworten wir die einfachste, vielleicht beantworten wir dann auch die restlichen. Warum haben wir Ihre Kunstwerke mitgenommen? Warum haben wir das getan? Sie haben vorhin, im Gespräch mit Marie-Claude, etwas Interessantes ausgesprochen, Tommy. Dass Ihre Kunstwerke Ihr wahres Ich enthüllten, meinten Sie. Ihr eigentliches Inneres. Das haben Sie doch behauptet, nicht wahr? Nun, da liegen Sie gar nicht so falsch. Wir nahmen Ihre Kunstwerke an uns, weil wir dachten, sie enthüllten Ihre Seele. Besser ausgedrückt: Wir taten es, um zu beweisen, dass Sie überhaupt eine Seele haben.“
Sie verstummte, und zum ersten Mal seit langen Minuten wechselten Tommy und ich wieder einen Blick.
„Und warum mussten Sie das beweisen, Miss Emily?“, fragte ich. „Dachte irgendwer, wir hätten keine Seele?“
Ein dünnes Lächeln erschien in ihrem Gesicht.
„Es rührt mich, Kathy, Sie so verblüfft zu sehen. In gewisser Weise ist es ein Beweis dafür, dass wir unsere Arbeit gut gemacht haben. Wie Sie selbst sagen – weshalb sollte jemand bezweifeln, dass Sie eine Seele haben? Aber ich muss Ihnen gestehen, meine Liebe, dass dies nicht die allgemeine Auffassung war, damals, vor vielen Jahren, als wir angefangen haben. Und obwohl wir seither ein gutes Stück weitergekommen sind, ist diese Ansicht noch immer keine Selbstverständlichkeit, auch heute nicht.
Sie und alle ehemaligen Hailshamer wissen noch nicht einmal die Hälfte, obwohl Sie schon so lange draußen in der Welt gewesen sind. Überall im ganzen Land gibt es jetzt, in dieser Stunde, Kollegiaten, die unter beklagenswerten Umständen aufgezogen werden, Umständen, die Sie als Hailshamer sich kaum vorstellen können. Und jetzt, da es uns nicht mehr gibt, wird alles immer nur schlimmer werden.“
Wieder verstummte sie, und einen Moment lang schien sie uns mit schmalen Augen aufmerksam zu mustern. Schließlich fuhr sie fort:
„Was immer man sagen kann, wir haben zumindest dafür gesorgt, dass Sie alle, die Sie in unserer Obhut waren, in einer wunderbaren Umgebung aufwachsen konnten. Und wir haben auch dafür gesorgt, dass Ihnen immerhin das schlimmste Grauen erspart blieb, nachdem Sie uns verlassen hatten. Zumindest so viel konnten wir für Sie tun.