Adalbert Stifter: Prokopus (8)
EUnten, im Gasthof Fichtau, ist die Welt der Wirtsfamilie in bester Ordnung – und seit Generationen gepflegt. Aber oben, auf der Burg Rothenstein, wo das sehr junge adlige Paar Prokopus und Gertraud Einzug halten, setzt trotz Kinder segen eine Entfremdung ein … © Projekt Gutenberg
r tat dieses gerne, entweder weil er da keine Arbeit hatte oder weil er überhaupt sinnend war und gerne seinen Gedanken und Träumereien nachging oder weil auf sein unentwickeltes Herz diese Tageszeit eine besondere Wirkung ausübte, die im Gebirge mehr als im flachen Lande um alle Dinge ihre unbeschreibliche Ruhe und Würde ausgießt.
Es war in der grünen Fichtau Gewohnheit, früh schlafen zu gehen, um, wie sich Romanus ausdrückte, die Nacht Nacht und den Tag Tag sein zu lassen. Im Sommer geschah es schon, wenn die letzte Stufe der Dämmerung noch am Himmel leuchtete, so daß man genug sah, seine Schlafstelle zu suchen, und daß, wenn man schon schlief die Sterne oder der Mond zu scheinen anhoben.
Wie alle Tage war es auch heute an diesem so bewegten gewesen. Da die Leute ihre Arbeiten, die in jeder Dämmerung nach einer unwandelbaren Regel sich wiederholen, verrichtet
hatten, gingen sie einer nach dem andern schlafen. Auch Tiburius erhob sich sofort von der Gassenbank, da noch ein recht schöner, aber blasser Goldschimmer um alle Gegenstände des Tales leuchtete, er nahm seinen breiten Hut, zog sein rauhes graues Ziegenfell, das oben zu der Verwitterung der Felsen besser paßt als unten zu der Umgebung, über die Brust zusammen und ging gemach gegen die vieleckigen und vielwinkeligen Holzgebäude zurück, in denen er seinen gebräuchlichen Ruheplatz schon wußte.
Vater Romanus, nachdem er alles verrichtete und an allen Stellen des Hauses gewesen war und nachgeschaut hatte, stieg die Treppe in das obere Stockwerk hinauf, wo das Schlafgemach war, Ludmilla mußte schon viel früher heraufgegangen sein; denn sie hatte schon ihren Schlüsselbund losgenestelt und auf den Tisch gelegt – sie mußte schon ihr Abendgebet verrichtet haben; denn sie saß bereits mit dem knap- pen Nachthäubchen auf dem Kopfe und mit den weißen Nachtgewändern angetan auf dem Bette – sie war, obschon sie noch nicht besonders alt war, doch eingebückt wie ein Mütterlein, und auf das milde, einst so schöne Angesicht, das halb gegen das Fenster gewendet war, fiel der letzte Schein, daß es fast mit Gold und Silber belegt war. Romanus, der sonst gerne rasch und frisch war, ging fast fromm in das Zimmer. Er legte seinen großen Schlüssel, mit dem er alle ihm zugehörigen Räume geschlossen hatte, dann die Geldtasche und allerlei andere Dinge, die er aus seinen Säcken genommen hatte, neben den Schlüsseln und abgelegten Taggewändern Ludmillas hin und sagte: „Du bist schon da, Mütterlein, du bist schon fertig – lege dich nur nieder, daß du dich nicht erkältest – gute Nacht, Mutter, gute Nacht.“
„Gute Nacht, Romanus“, antwortete sie, „schlafe recht wohl.“
Und mit diesen Worten legte sie sich vollends in ihr Bett hinein und zog die Decke bis an das Kinn ihres Antlitzes empor.
Romanus ging nun gegen die Tür und schloß sie wohl ab, dann untersuchte er die Fenster und hatte verschiedenes hin und her zu trippeln, wobei er sich seiner Oberkleider entledigte. Nach einer Weile tat er sein Käppchen ab und kniete auf dem Schemmel zum Abendgebete nieder und es war, als ob seine schneeweißen Haare jetzt in dem dunklen Gemache leuchteten. Da er fertig war, kleidete er sich aus und legte sich in sein Bett, das in der entgegengesetzten Ecke des Zimmers von dem Ludmillas war. Er bedeckte seine Haare mit keinem Käppchen, richtete es sich sehr bequem in dem Lager, und es mochte dessen weiche Umfangung ihm, der den ganzen Tag ungemein rührig und tätig zu sein gewohnt war, wohl recht lieblich und anmutig dünken. In der heimelnden Stube war es nun ganz dunkel; denn die Sterne gaben gerade so viel Licht, daß man kaum die weichsten und unbestimmtesten Umrisse der Gegenstände wahrnehmen konnte.
Die Tochter der beiden Eheleute. Lenore, war auch schon im Bette. Ihr Schlafgemach war neben dem der Eltern, durch das sie gehen mußte. Sie ging gewöhnlich mit der Mutter herauf, was auch heute geschehen war, daher sich Romanus, als er schlafen ging, um die Tochter nicht bekümmerte. Als sie mit der Mutter ein Weilchen geredet hatte und als ihr diese mit der Hand das Kreuzzeichen in das schöne Angesicht gemacht hatte, war sie in ihr Kämmerlein zu dem jungfräulichen Bette getreten. Sie sperrte die Türe nie zu, weil sie zu Mutter und Vater führte; aber das bewegliche eiserne Fensterkreuz hatte sie untersucht, ob es ja fest und geschlossen sei – sie war dann im Stübchen noch ein wenig hierhin und dorthin gegangen, um manches zu ordnen – hatte im Winkel des Fensters kniend gebetet – hatte von den Oberkleidern abgelegt – und war dann in das enge Bettlein gehuscht, das sie immer im schönen weißen Glanze erhielt.
Der letzte, welcher im Hause die Ruhe suchte, war der Sohn Damian. Als die Perniz, welche am ganzen Tage so unermeßliches blitzendes Silber gerollt hatte, auch nicht mehr den geringsten Schein desselben besaß – ja, als die unheimlich blaulichen Wellen, welche sie, wenn das Abendgelb am Himmel lodert, hinter Steine, Gesträuche und Baumwurzeln zurückführt, gar nicht mehr gesehen werden konnten und ihr Wasser nur hörbar war – als der letzte mattrote Sterbeglanz des Grahns von seinem Gipfel gleichsam unsichtbar in die Luft verschwunden war, daß er selber nun grau und kalt dastand und nur ganz schwach in dem dunkeln Himmel gesehen werden konnte – als der Pfad im Grase des Rasens kaum mehr als grauer Streifen erkennbar war: ging er mit seinen Hunden an dem Rauschen des Flusses zurück. Er ging zu dem Hause, tat die Hunde in einen Zwinger, in dem sie in der Nacht herumgehen konnten, sperrte mit einem Schlüssel die kleinere Haustür auf und verschwand hinter ihr, sie wieder verschließend. Er wurde weiter nicht mehr vernommen. Des ungeachtet war noch nicht die vollständige Ruhe in der grünen Fichtau. Da es schon ganz finster geworden war, bewegte sich ein schwarzer Knäul über die Gasse gegen die Hintergebäude zurück. Es war der arme Christian, der seinen Heuverschlag suchte, in welchem er zu schlafen pflegte. Man weiß nicht, was er etwa noch so spät vor dem Hause oder in dem Gebüsche zu tun gehabt hatte – er weiß es selber oft nicht –, und von den andern bekümmerte sich auch keiner um ihn, was er tat oder wann er sich zur Ruhe begab.
Von nun an, da die seltsame Gestalt unter der Schwärze des Oberdaches verschwunden war, herrschte ununterbrochene Stille. Alle lagen sie in todesähnlichem Schlummer befangen, und die kalte Sternenglocke stand brennend und einfach über dem ganzen Walde, der dunkel und ohne Regung unter ihr ruhte und in dessen Größe das Haus, in dem wir den ganzen Tag zugebracht hatten, nicht zu sehen und zu erkennen war oder so winzig und klein, als hätte man kaum mit der Spitze einer Nadel in das Waldland getupft.