Droht in der Ägäis der „Ernstfall“für die Nato?
Es gibt viele Gründe, warum die Gefahr einer bewaffneten Auseinandersetzung zweier Bündnispartner wächst
General Hulusi Akar ist sicher, dass die Türkei für einen Zwei-Fronten-Krieg gerüstet ist. Sein Land sei stark genug, um im syrischen Afrin und in der Ägäis gleichzeitig die Dinge „unter Kontrolle“zu halten, sagte der türkische Generalstabschef kürzlich. Der von Syrien bis in die Ägäis gespannte Bogen mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Schließlich kämpft die türkische Armee in Afrin gegen eine kurdische Miliz, während die Ägäis die Grenze zum Nato-Partner und EU-Staat Griechenland markiert.
Im Verhältnis der Türkei zu Griechenland und auch zu Zypern wachsen die Spannungen. Es geht um Macht, regionalen Einfluss und viel Geld. Die Eskalation beflügelt alte Feindbilder, ist Ausdruck politischer Differenzen, die selbst bei gutem Willen der Beteiligten schwer aus der Welt zu schaffen wären.
Sowohl Griechenland als auch die Türkei sehen sich in der Defensive: In Athen werden der weit größeren und militärisch überlegenen Türkei aggressive Absichten unterstellt, während sich die Türkei durch Griechenland im Westen und das griechisch regierte Zypern im Süden eingekreist sieht. Schon einmal – 1996 – standen die Türkei und Griechenland am Rande einer militärischen Auseinandersetzung, die von der Führungsmacht USA in letzter Minute verhindert wurde.
Anlass für den damaligen Streit war die ungenaue Grenzziehung in der Ägäis – ein Problem, das bis heute nicht gelöst ist, auch wenn beide Staaten im Rahmen des europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommens bei der Bekämpfung des Menschenschmuggels in dem Gewässer kooperieren. Der ZypernKonflikt ist trotz aller Friedensbemühungen bis heute ungelöst.
Diese unbewältigten Probleme lassen einen gefährlichen Mix gedeihen, der Militärs wie Akar an den Ernstfall denken lässt. Die US-Zeitschrift Weekly Standard sieht die Gefahr eines „Nato-internen Krieges“. Über der Ägäis liefern sich griechische und türkische Kampfjets immer wieder Scheingefechte. Im Februar rammte in der Ägäis ein Schiff der türkischen Küstenwache ein Boot der griechischen Kollegen.
Aus Sicht des griechischen Verteidigungsministers Panos Kammenos ist die Türkei für ein nicht hinnehmbares „provokatives Verhalten“verantwortlich. Er hat zum Schutz der Inseln 7000 Soldaten in die Ägäis geschickt. Postwendend nennt der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim Griechenland herablassend einen Staat, dessen Bevölkerungszahl nicht mal an die von Istanbul heranreiche.
Die Entdeckung reicher Gasvorräte im östlichen Mittelmeer heizt den Konflikt noch an. Ankara verlangt eine Beteiligung der türkischen Zyprer – und damit der Türkei – an der Ausbeutung des Schatzes. Es untermauerte dies mit dem Einsatz der Kriegsmarine, um die Suche nach Gasvorräten zu stören. Erdogans Regierung beobachtet zudem mit wachsender Verärgerung eine Allianz zwischen Israel, Griechenland und Zypern: Die drei wollen das Erdgas auf direktem Wege nach Europa schicken, was als Konkurrenz für die türkischen Pipelines mit Gas aus Russland und Zentralasien verstanden wird.
Der Gasreichtum könnte mittelfristig zudem den türkischen Rivalen Ägypten stärken. Die Beziehungen zwischen Ankara und Kairo sind seit der Entmachtung des islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi im Jahr 2013 gespannt. Die Türkei hat angedeutet, mit der Suche nach Erdgas in ägyptischen Gewässern zu beginnen. Für einen ägyptischen Parlamentarier durchaus eine „Kriegserklärung“.
Aber weder die Türkei noch Griechenland oder Zypern haben Interesse an einer handfesten Auseinandersetzung und einem endgültigen Bruch. Ankara braucht Europa als Handelspartner und will deshalb den Streit mit den EU-Mitgliedern Griechenland und Zypern nicht völlig aus dem Ruder laufen lassen. Athen und Nikosia wollen einen Abbruch der türkischen Beziehungen zur EU vermeiden, weil sie sich von der Anbindung Ankaras ein Mindestmaß an Einfluss auf Erdogan versprechen. Noch rüsten Politiker auf beiden Seiten rhetorisch eher auf als ab. Der Grieche Kammenos nennt die Türkei inzwischen einen „Feind“, während Erdogan betont, die Türkei werde in der Ägäis und im Mittelmeer notfalls genauso entschieden eingreifen wie in Afrin.