Immer weiter, immer mehr?
Die herrschende Weltordnung sagt: Wachstum schafft Wohlstand. Der Zustand der Welt entgegnet: Grenzenloses Wachstum aber führt in die Katastrophe. Höchste Zeit für alternative Konzepte auf dem Weg in eine bedrohte Zukunft
Erst dieser Tage wurde das Weltzustandsbarometer wieder aktualisiert. Da sagte der Internationale Währungsfonds in Washington für dieses Jahr ein Wachstum von 3,9 Prozent für die globale Wirtschaft voraus – wenn denn die aktuellen Krisen nicht noch Dämpfer brächten. Als müsste zuletzt doch zumindest diese Gefahr die Politiker der USA und Chinas, Russlands und Saudi-Arabiens wachrütteln! In Deutschland bremsten die Experten ihre Erwartungen für die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts vorsorglich von knapp über zwei auf knapp unter zwei Prozent.
So geht das jedes Jahr. Es muss im Bezug auf das Vorjahr immer noch mehr werden: exponentielles Wachstum. Und so wuchs die Weltwirtschaft allein im Jahr 2016 um exakt so viel, wie sie 1970 insgesamt produzierte: den Umfang von zwei Billionen Dollar. Von heute aus geht es weiter: Bis 2030 wird sich die Zahl der Autos auf den Straßen verdoppeln, bis 2035 die Zahl der Zivilflugzeuge am Himmel, bis 2040 die Menge der Waren, die über die Ozeane der Welt verschifft werden. „Und das Aufkommen von Festabfällen – der Müll, der auf Deponien gekippt wird – dürfte sich bis zum Ende des Jahrhunderts auf elf Millionen Tonnen pro Tag verdreifachen“, rechnet der Brite Jason Hickel vor. Wenn es denn bis dahin überhaupt noch so weitergehen kann. Denn spätestens mittelfristig bedrohen ja nicht irgendwelche politischen Krisen das weiter steigende Wachstum – sondern die Tatsache, dass die Wirtschaft ihre eigenen Grundlagen aufzehrt und vernichtet, wird zum Problem: die Ressourcen als Einzelne und den Planeten samt seines Klimas als Ganzes. Die drohenden Szenarien sind längst bekannt – allein, die Folgen fehlen.
Bevor es nun aber zu tatsächlichen existierenden Alternativvorschlägen geht: Wer ist Jason Hickel? Professor an der Wirtschafts-EliteSchule London School of Economics und jetzt Autor eines Buches mit dem Titel „Die Tyrannei des Wachstums“. Und in dem lässt sich lernen, wie verheerend sich die Fixierung auf das Wachstum nicht nur auf die Umwelt ausgewirkt hat: „Vom Ende des 15. bis Anfang des 20. Jahrhunderts betrachteten die europäischen Mächte ihre Kolonien als Sacrifice Zones (Opferzonen) – Gebiete, die sie für ihre eigene Entwicklung zu opfern bereit waren. Massensterben, unermessliches Leid, grausame Demütigungen – kein Preis war zu hoch, um die wirtschaftlichen Interessen von Kolonialmächten und -unternehmen durchzusetzen …“Hickel hat da viel Erschütterndes zu erzählen, das zugleich begreiflich macht, inwiefern die heutige Armutsmigration auch als historischer Bumerang der westlichen Ausbeutungsgeschichte zu verstehen ist.
Inzwischen aber sind auch die mächtigen Gesellschaften selbst unterjocht – unter das Prinzip des BIP, des Bruttoinlandsprodukts, der Produktivität. Und während zehn Jahre nach der letzten Finanzkrise die Staats- und Privatverschuldungen aktuell wieder neue Höchststände erreicht haben, läuft die sich selbst beschleunigende Dynamik zwischen Arbeit, Produktion und Konsum mit der Verheißung des Wohlstands einfach immer weiter. Wohin? In den Abgrund eines zerstörten Planeten und einer durch Ungleichheit gespalteten Welt?
Hickel, aber mit ihm viele weitere Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen, mahnen darum endlich zum Innehalten, jetzt. Auch der Politikwissenschaftler Ulrich Brand, der zur Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“des Deutschen Bundestages gehörte. Er stellt mit seinem ecuadorianischen Kollegen Alberto Acosta im Buch „Radikale Alternativen“Denkansätze wie das sogenannte „Degrowth“und den „PostExtraktivismus“vor. Letzteres ist die Maßgabe, dass künftig nicht mehr der Weltmarkt mit seinen umkämpften Preisen die Maximalmengen an Rohstoffen aus allen möglichen Ländern zieht – sondern dass jeweils nur das vor Ort Nötige gewonnen wird und dort auch verbleibt. „Degrowth“ist wörtlich die Abkehr vom Wachstum und meint die Abkehr vom „kapitalistischen Profitprinzip“, die Ausrichtung an den tatsächlichen Erfordernissen von Gesundheit, Bildung, Ernährung, Mobilität und Kommunikation. Es wäre die Umkehr des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage, statt des bislang geweckten Bedürfnisses entschiede der Bedarf, eine Entschleunigung des Marktes, zurück zum Wesentlichen als letzte Möglichkeit einer rechtzeitigen Umkehr. Brand: „Wir müssen umsteuern, umdenken, um aus der Wachstumslogik herauszukommen.“Sie zerstöre heute schon die Lebensmöglichkeiten vieler Menschen – bei einer sich ja auch noch weiter zunehmenden Weltbevölkerung …
Aber wer soll das bewerkstelligen? Und mit welcher Wirtschaft? Dazu hat die in Cambridge und Oxford lehrende Wirtschaftswissenschaftlerin Kate Raworth ein umfassendes Konzept vorgelegt, sie nennt es „Die Donut-Ökonomie“. Ein Wirtschaftsmodell, von zwei Seiten begrenzt, mit innerem und äußerem Rand, wie das reifenartige Gebäck eben, der Donut: „Vereinfacht gesagt, ist das ein radikal neuer Kompass für die Menschheit in unserem Jahrhundert. Er weist in die Zukunft, in der die Bedürfnisse des Menschen befriedigt werden, während zugleich die lebendige Welt geschützt wird, von der wir alle abhängig sind.“Innerer Rand also die Bedürfnisse, zwölf an der Zahl, wie ausreichend Nahrung, Wohnraum, Zugang zu Bildung; äußerer Rand: neun planetare Bedingungen für ein gutes Leben wie Klima, Luft-, Wasserqualität. Raworths macht vor allem auf zweierlei nachdrücklich aufmerksam: Die unweigerliche Abhängigkeit unseres Wohlergehens von dem unserer Umwelt, die in den Komfortzonen der Erde nur allzu leicht vergessen wird; und die wesentliche Einsicht, dass ein glückliches Leben gerade nicht den Überfluss braucht, es eher schon von diesem erdrückt wird, weil die zufriedensten Menschen auch statistisch in Verhältnissen zu finden sind, in denen das Nötige vorhanden ist und dazu Zeit für das Schöne, das Miteinander. Zum BIP-Wachstum schreibt die Professorin: „Es ist höchste Zeit, dass der Kuckuck das Nest verlässt … Ersetzen wir ihn durch ein klares Ziel für das 21. Jahrhundert, durch ein Ziel, das Wohlstand für alle im Rahmen der Mittel und Möglichkeiten unseres Planeten ermöglicht. Mit anderen Worten, begeben wir uns in den Donut, den idealen Ort für die Menschheit.“
Was der IWF dazu meinte? Achtung, Rezessionsgefahr? Denn die von Haworth und Co. gedachten Werte sind eben nicht einfach in einen Chart zu überführen. Und darum fordert Jason Hickel auch als einen der wesentlichen Schritte: „Die Demokratisierung der wichtigsten Institutionen der Global Gouvernance – der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds der Welthandelsorganisation.“Nur so könne dem Wachstumsindex und dem Spiel der Märkte die Deutungshoheit über die Welt entzogen werden – bevor es zu spät ist. Wer das entscheiden und durchsetzen kann gegen die Unersättlichkeit des reichsten Prozents? Sicher nicht die Vernunft der Konsumenten. Nur die Politik.