Im Todeswinkel
Regelmäßig werden Radler von abbiegenden Lastwagen übersehen. Eine Augsburgerin hat so einen Unfall wie durch ein Wunder überlebt. Sie kämpft seither für eine Sache, die aber nur langsam Fahrt aufnimmt
Der tote Winkel – jeder kennt ihn, doch eigentlich will keiner was mit ihm zu tun haben. Zu gefährlich ist der blinde Fleck im Spiegel eines Fahrzeugs, der regelmäßig zu schweren Verkehrsunfällen führt. Auch Rosemarie Wirth hätte am liebsten nie Bekanntschaft mit ihm gemacht. Doch seit sie in Augsburg von einem abbiegenden Lastwagen überfahren wurde und wie durch ein Wunder überlebte, ist sie quasi das Gesicht des toten Winkels. Das habe einmal eine Freundin zu ihr gesagt, nach unzähligen Zeitungsartikeln, Fernseh- und Radiosendungen, in denen über das Schicksal von Rosemarie Wirth und ihren beeindruckenden Kampf zurück ins Leben berichtet wurde.
„Die meisten Menschen, denen so etwas passiert ist, können nicht mehr darüber sprechen. Weil sie tot sind“, erklärt Wirth. So wie das neunjährige Mädchen, dass erst Anfang Mai in München von einem abbiegenden Lastwagen erfasst wurde. Nach Angaben des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs starben allein in diesem Jahr schon 23 Radler auf diese Weise.
„Ich habe überlebt und kämpfe mit meiner Stimme dafür, dass solche Unfälle nicht mehr passieren“, sagt Rosemarie Wirth. Im März des vergangenen Jahres hatte ein abbiegender Lastwagenfahrer die Radlerin an einer Ampel übersehen und zweimal überrollt. Dutzende Operationen und ihr unglaublicher Wille retteten der schwerst verletzten Wirth das Leben. Heute kann sie kurze Strecken wieder ohne Krücken laufen. „Meine Ärzte hätten nicht gedacht, dass das möglich ist“, sagt die 51-Jährige.
Doch eigentlich wolle sie gar nicht mehr darüber sprechen, wie es ihr gehe – etwas anderes sei doch viel wichtiger: Dass Unfälle wie ihrer künftig nicht mehr passieren. Spannung verfolgte sie daher vor wenigen Tagen die Nachrichten aus dem Bundestag in Berlin. Dort machten – in seltener Einigkeit – die Abgeordneten von Union, SPD und Grünen Druck auf die Bundesregierung, sie möge sich für den verpflichteten Einbau von Abbiegeassistenten bei Lastwagen einsetzen. Diese technischen Hilfsmittel warnen Brummifahrer davor, wenn sich beispielsweise Radfahrer im toten Winkel neben ihren Fahrzeugen befinden. „Dadurch könnten so viele Unfälle verhindert werden“, sagt Rosemarie Wirth. Kaum jemand wird ihr widersprechen – und doch tritt Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer auf die Bremse.
„Die gesetzlichen Voraussetzungen sind international geregelt und können von Deutschland nicht im geändert werden“, sagt der CSU-Politiker, will deswegen aber nicht untätig auf eine europaweite Regelung warten. Mit der „Aktion Abbiegeassistent“sollen Unternehmen davon überzeugt werden, ihre Fahrzeugflotten freiwillig mit den Assistenzsystemen auszustatten. Nächsten Dienstag soll ein erstes Treffen mit Speditionen, Logistikverbänden und Herstellern stattfinden. „Wir sind grundsätzlich für die Einführung solcher Systeme“, erklärt Ulrich Pfaffenberger, Sprecher des Landesverbandes bayerischer Spediteure. Allerdings müssten die Rahmenbedingungen dafür stimmen.
Soll heißen: Es könne nicht sein, dass nur deutsche Unternehmen verpflichtet würden, schließlich seien hierzulande auch unzählige ausMit ländische Fahrzeuge unterwegs. Außerdem müssten Haftungsfragen geklärt und die technischen Systeme, die zwischen 300 und 2000 Euro kosten, getestet, vereinheitlicht und zugelassen werden. Gleichzeitig betont er, dass technische Hilfsmittel kein Allheilmittel seien und dem Menschen oftmals ein trügerisches Gefühl von Sicherheit vermittelten.
Ein Argument, dass Rosemarie Wirth nicht gelten lässt: „Ein Restrisiko bleibt immer, das ist doch jedem klar. Trotzdem sollten wir alles dafür tun, um die Situation zu verbessern. Und das so schnell wie möglich.“Zu diesem Zweck spiele sie auch gerne das „Gesicht des toten Winkels“, sagt sie: „Wenn ich dadurch auch nur ein Leben retten kann, hatte mein Unfall schon einen Sinn.“In ihrer Heimatstadt AugsAlleingang burg scheint ihr Kampf schon etwas zu bewirken. Aus dem Rathaus ist zu hören, dass die städtischen Müllautos sowie der Fuhrpark des Tiefbauamtes mit Abbiegeassistenten ausgestattet werden sollen.