Russland träumt vom Endspiel
Die Elf des Gastgebers kann im Viertelfinale gegen Kroatien ein Stück Fußball-Geschichte schreiben. Nur die Neujahrsansprache von Staatschef Putin hat eine höhere Einschaltquote als Auftritte der eigenen Kicker
Sotschi Die russischen Fernsehsender haben sich am Vortag des großen Spiels an Sotschi gar nicht sattsehen können. Und wenn es nur Bilder von einem doch recht leeren Strand waren, über dem graue Wolken hingen. Gleichwohl flimmerten am Freitag Endlosschleifen eigentlich belangloser Ansichten aus der Helikopterperspektive vom Schwarzen Meer über die Mattscheibe. Match TV, der GazpromMedia gehörende Kanal, auf dem die meisten WM-Partien laufen, überbot sich dabei mit Perwy Kanal, dem populärsten Programm, mit vermeintlichen Nachrichten, die eigentlich keine waren. Oder galt der nächste Regenschauer über dem Skiresort Rosa Dolina wirklich als Neuigkeit?
Aber was tun die staatlich gelenkten Medienunternehmen nicht alles, um ein nächstes Fußball-Wunder im Vorlauf zu befeuern: Das WMViertelfinale gegen Kroatien in Sotschi soll auch einen Meilenstein Fernsehgeschichte bringen. Die 24 Millionen, die bereits das Husarenstück im Achtelfinale gegen Spanien verfolgten – mehr hatten 2018 nur die Neujahrsansprache von Wladimir Putin verfolgt – könnten sich auf einmal locker verdoppeln.
„Rossija, Rossija!“-Rufe erklangen zuletzt überall im Lande immer häufiger und immer lauter. Spontan auf Straßen und Plätzen selbst an den beiden spielfreien Tagen. Weil niemand ernsthaft damit gerechnet hatte, dass der Ausrichter zu diesem Zeitpunkt im Turnier noch etwas zu sagen hätte. Die von Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow mal spaßeshalber getätigte Aussage, dass die Stadien für seine Mannschaft hätten „fünfmal größer“gebaut werden können, stammt nicht aus der Republik Absurdistan. Denn das für die Olympischen Spiele 2014 errichtete Fischt-Stadion ist mit seinen knapp 48 000 Plätzen heute definitiv zu klein. Und selbst für die größten Fanzonen wird empfohlen, sich mal nicht auf den letzten Drücker in Bewegung zu setzen.
Erstaunlich eigentlich nur, dass der Kreml-Chef sich nicht blicken lässt. Nur bei der 5:0-Ouvertüre gegen Saudi-Arabien versicherte sich Putin persönlich von der VIP-Tribüne, dass der Ball bei der Sbornaja in den richtigen Bahnen läuft. Seitdem war der viel beschäftigte Staatslenker nicht mehr gesehen und überließ das Händeschütteln seinem Regierungschef Dmitri Medwedew. Auch gegen Kroatien hat sich Putin wegen anderweitiger Verpflichtungen wieder entschuldigen lassen.
Aber ist sein Plan nicht ohnehin aufgegangen? Die Russen vergessen mal kurz ihre Trübheit nicht beim Wodka, sondern beim Fußball. Oder bei beidem? In einem gut situierten Restaurant von Kasan sprangen einige vergangenen Samstag nach dem gewonnenen Elfmeterschießen von ihren Sitzen, um ihre Motorräder im Stand zu starten und das Standgas bis zum Anschlag zu drehen. Auch eine Art, der Freude freien Lauf zu lassen.
Der Mittelfeldspieler Alexander Golowin, das vielleicht größte Talent, wurde beklatscht, die militärische Geste von Stürmer Artjom Dsjuba belächelt. Und sogar der Verteidiger Mario Fernandes, der eingebürgerte Brasilianer, der gar kein Russisch spricht, war einer von ihnen.
Unter ihnen muss sich der ewige Abwehrrecke Sergej Ignaschewitsch vorkommen wie im falschen Film: Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass er am 14. Juli in St. Petersburg an seinem 39. Geburtstag das Spiel um den dritten Platz bestreitet. „Wir haben verstanden, dass wir bis zum Finale kommen. Und wir glauben ernsthaft daran“, verkündete Dampfmacher Golowin. Das Halbfinale ist das neue Ziel einer Generation, aus der vor allem die Älteren irgendwo scheinbar einen Jungbrunnen gefunden haben.
Zu Ordnung und Disziplin paaren sich Laufstärke und Leidenschaft, was keine verbotene Mischung darstellt, sofern die konditionellen Grundlagen auf ehrliche Art gelegt wurden. Aber selbst zu den Laufwerten
Die Russen vergessen mal kurz ihre Trübheit
wird der Schnurrbartträger Tschertschessow kaum mehr befragt. Stattdessen soll dem ehemaligen Nationaltorwart sogar ein Denkmal gebaut werden. Abwarten, wie es gegen die ausgebufften Kroaten ausgeht, rufen die Skeptiker.