Hat unser Land ein Rassismus Problem?
Wie ein junger Deutscher mit türkischen Wurzeln eine Debatte um Diskriminierung im Alltag auslöst und warum das nicht alle gut finden
Mehrere graue Haare hätten ihm die vergangenen Tage gebracht, schreibt Ali Can auf Facebook. 24 Jahre ist er alt. Ergraut sieht er nicht aus, aber müde. Er spricht im ZDF, in der Tagesschau, gibt Interviews, twittert und facebookt. Mit dem Kürzel #MeTwo, also #IchZwei, hat er eine Debatte über Alltagsrassismus losgetreten. Sie soll darauf hinweisen, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund mehr als einem Land oder einer Kultur verbunden fühlen, und ist angelehnt an das Hashtag #MeToo, unter dem Frauen über Erfahrungen mit Sexismus berichteten.
Zigtausende Menschen berichten nun im Internet, wie sie Rassismus erfahren haben. Begonnen hat alles mit Mesut Özil. Dem deutschen ExNationalspieler mit türkischen Wurzeln, der vor der WM mit dem türkischen Präsidenten Erdogan posierte. Der dafür kritisiert wurde und sich diskriminiert fühlte. Ali Can solidarisierte sich mit ihm unter dem Hashtag #MeTwo. Denn: „Wenn wir Erfolg haben, sind wir deutsch. Wenn wir Fehler machen, heißt es, wir haben einen Migrationshintergrund.“Den hat immerhin jeder vierte Deutsche laut Zahlen des Statistischen Bundesamts.
Unter #MeTwo twitterte Can Alltagserlebnisse wie: „Am Telefon hat man ja gar nicht rausgehört, dass Sie Türke sind.“„Richtig, weil ich ja auch Deutscher bin!“Etliche taten es ihm gleich. Sie berichten zum Beispiel, dass sie aufgrund ihres Namens keine Wohnung fänden. Eine Frau schreibt, man habe ihr in der 4. Klasse als Klassenbeste empfohlen, auf die Hauptschule zu gehen, um „unter Gleichgesinnten“zu sein. Und häufig liest man den Spruch: „Oh, du sprichst aber gut Deutsch.“Ali Can sagt: „Danke Özil, dass du uns die Tür geöffnet hast, um über Rassismus zu sprechen!“
Mesut Özil als Rassismus-Opfer? Nur eine Sache von vielen, die Ali Ertan Toprak von der Kurdischen Gemeinde in Deutschland an der #MeTwo-Debatte ärgert. Er sagt, Özil habe man nicht wegen seiner Herkunft kritisiert, sondern wegen seiner Haltung. Aber: „Sobald man jemanden mit Migrationshintergrund in Deutschland kritisiert, wird man in die Rassismus-Schublade gesteckt“, sagt Toprak. Er findet: „Der Rassismus-Vorwurf komme zu schnell, zu pauschal und zu häufig.“Das sei unfair. Wenn jemand gelobt werde, weil er gut Deutsch spreche, sei das nicht gleich rassistisch motiviert, und schlechte Erfahrungen mit Lehrern hätten viele gemacht, sagt Toprak, auch Deutsche. Trotz negativer Erfahrungen habe er auch viel Unterstützung erfahren. Es brauche unzweifelhaftere Beispiele.
Viele fühlten sich in ihrer Opferrolle bestärkt, sagt Toprak. Da helfe es nicht, wenn Linksliberale sich als Migranten-Anwälte aufspielten. Das sei keine Begegnung auf Augenhöhe und auch eine Form von Rassismus. Er wünsche sich ein wenig Selbstkritik bei den Migranten.
Auch FDP-Chef Christian Lindner findet die Debatte einseitig: „In der türkeistämmigen Gemeinschaft gibt es eine Geringschätzung freiheitlicher Werte. Bemühungen, sich zu integrieren, werden vernachlässigt.“Trotzdem gebe es in Deutschland „seit langem eine Alltagsdiskri- minierung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte“.
Das bestätigt Ali Ertan Toprak, der in der Türkei geboren wurde und mit zwei Jahren nach Deutschland kam. Aber es brauche eine differenziertere Debatte, um den wahren Rassismus von rechts zu bekämpfen. Es gebe kein Land ohne Rassismus. Die Frage sei, wie es damit umgehe. In Deutschland würde Rassismus in der Öffentlichkeit geächtet. Deshalb, glaubt er, „haben wir nicht mehr Verständnis für unser Anliegen geschaffen, sondern bei der Mehrheitsgesellschaft eher für Unverständnis gesorgt“. Deutsche bedanken sich bei Toprak für seine Aussagen, türkische Nationalisten bezeichnen ihn als Verräter. „Von denen erfahre ich Rassismus“, sagt er. Dabei wolle er einen Beitrag leisten für den sozialen Frieden.
Dafür, sagt der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour, sei es zentral, dass „wir als Gesellschaft unsere Offenheit erhalten und verbessern“.
Jeder vierte Deutsche hat Migrationshintergrund
Die Kampagne soll Horst Seehofer erreichen
Endlich werde Rassismus diskutiert. #MeTwo-Initiator Ali Can träumt „davon, dass wir alle in dieser Gesellschaft dazugehören“. Deutsch und integriert sei, wer hier lebe, die Rechtsordnung akzeptiere und die freiheitlich demokratischen Werte im Grundgesetz einhalte.
Can wurde als Sohn kurdisch-alevitischer Eltern in der Türkei geboren. Als er zwei Jahre alt war, beantragte die Familie Asyl in Deutschland. Can wuchs im Münsterland auf und studierte Lehramt in Gießen. Bundesweit gibt er Workshops zu kultureller Vielfalt, gründete einen Friedensverein und die Hotline für besorgte Bürger – ein Bürgertelefon für Menschen, die über Integration, Flüchtlinge oder Muslime reden wollen. 2017 erschien sein gleichnamiges Buch darüber, in dem er sich „der Asylbewerber Ihres Vertrauens“nennt.
Mit seiner Kampagne hofft er, Horst Seehofer im Heimatministerium zu erreichen. Der kümmere sich zu wenig um die Heimatgefühle der Immigrierten. Außerdem spreche niemand vom Rassismus, den die Minderheiten innerhalb der Minderheiten erleiden. Inzwischen beteiligen sich auch Menschen in Ländern wie Schweden oder Norwegen an der Debatte, weltweit berichten Medien über die Rassismus-Diskussion in Deutschland. Eine TwitterUserin fasst zusammen, sie müsse sich nicht für eine Identität entscheiden: „Ich bin Weltbürgerin.“