Am Abgrund: „Babylon Berlin“und „Berlin“
TV und Lesetipp Die ARD hat gelernt. Hatten die Verantwortlichen die großartige Dominik-Graf-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“2010 noch im Spätabendprogramm versenkt (und sich gewundert, dass sie hinter den Quotenerwartungen zurückblieb), sind Serien-Folgen inzwischen in der Regel vor ihrem TV-Debüt in den Mediatheken abrufbar. Die Sehgewohnheiten haben sich geändert, der Serienboom hält an. Wurden Serien von Kritikern einst geschmäht, gelten sie längst als die Erzählform unserer Zeit. Und so wird Das Erste „Babylon Berlin“, die teuerste und zu Recht gefeierte deutsche Serienproduktion, in der Prime Time um 20.15 Uhr zeigen. Zum Free-TV-Auftakt strahlt sie am Sonntag, 30. September, drei Folgen hintereinander aus. Die weiteren Folgen sendet sie donnerstags um 20.15 Uhr. In der „Das
Erste Mediathek“werden sie jeweils 48 Stunden vor der TV-Ausstrahlung angeboten. Zudem zeigen Kinos die Serie, die 2017 im Bezahlsender Sky lief, ein paar Tage zuvor. „Babylon Berlin“: Weimarer Republik, die Goldenen Zwanziger, Nachtklubs, Armut, Straßenkämpfe, der erstarkende Nationalsozialismus und ein eigenwilliger Kommissar.
Ein Sittengemälde soll die Adaption der VolkerKutscher-Romane sein.
Am Gemälde jener Epoche – die vielfach mit unserer verglichen wird – malt auch der US-Amerikaner Jason Lutes seit
1996 mit seiner „Berlin“-Trilogie mit. Besser gesagt: Er zeichnet. In Schwarz-Weiß und in Comicpanels, die die damaligen Verhältnisse in einfachen Strichen und dennoch teils fast fotorealistisch wiedergeben. Panels, die die Atmosphäre, die im Berlin jener Zeit geherrscht haben mag, erahnen lassen, und die im
Gedächtnis bleiben – insbesondere die letzten genialen Seiten seiner Trilogie. Im Jahr 2000 erschien Band 1: „Steinerne Stadt“; Band 2, „Bleierne Stadt“, im Jahr 2008; jetzt Band 3: „Flirrende Stadt“. Lutes hat wie Kutscher die geschichtlichen Hintergründe akribisch recherchiert. Während Kutscher seinen Kommissar Gereon Rath ins Berlin der 20er und 30er wirft, erzählt Lutes unter anderem von der fiktiven Studentin Marthe Müller und dem fiktiven Journalisten Kurt Severing (Bild rechts, Ausschnitt). Der arbeitet für die „echte“Weltbühne des Herausgebers und späteren Friedensnobelpreisträgers Carl von Ossietzky. Müller und Severing sind Figuren, die für ganze Gruppen und Milieus stehen, und die immer tiefer in den Sog der politischen Ereignisse und gesellschaftlichen Umbrüche hineingezogen werden. Bis zum bitteren Ende der Weimarer Republik mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch Paul von Hindenburg in Band 3 (Bild links) – und den Tod der unabhängigen Presse.
Mit dem Blick von außen gelingt Lutes ein Einblick in die Spätphase der Weimarer Republik, der lehrreich ist und berührt. Wer mag, kann neben „Berlin“noch Kästners Roman „Fabian“von 1931 als Vorbereitung oder Ergänzung zur Serie „Babylon Berlin“lesen. Und natürlich die Romane von Kutscher.