Und plötzlich schwebt Astro-alex vorbei 21
Weltraumforschung Der Deutsche wird übermorgen Kommandant auf der ISS. In Bremen kann ihm jeder bei der Arbeit zusehen
Der Weltraum, unendliche Weiten. Nicht die Enterprise, aber die ISS. Weiße Wände mit Griffen, die davon zeugen, dass auf der Internationalen Raumstation jeder Zentimeter der Funktionalität verschrieben ist. Eine Schlafkoje, an der Wand angebracht, eine Toilette, die in der Schwerelosigkeit funktioniert. Eine Luke gibt den Blick frei auf das Columbus-modul, wo die Astronauten der Europäischen Weltraumorganisation Esa experimentieren. Ein Fenster gibt den Blick nach draußen frei, hinter der Scheibe scheinen in fast unendlicher Entfernung Sterne zu blinken. Ein paar Schritte auf dem Boden, auf dem Alexander Gerst ab 4. Oktober das Kommando übernimmt. Schritte auf dem Boden? Im All, wo es weder oben noch unten noch Bodenkontakt gibt, wären diese Begriffe unsinnig.
Tatsächlich holt die Schwerkraft die Besucher zurück auf den Boden der Tatsachen. Es handelt sich um ein Modell. Von Augsburg aus ist die originalgroße Nachbildung zweier Iss-module, die bei Airbus Defence and Space in Bremen steht, sogar weiter entfernt als das Original von der Erde. Alexander Gersts Büro schwebt etwas mehr als 400 Kilometer über uns. Bremen ist von Augsburg 543 Kilometer Luftlinie entfernt. Doch nach Bremen fährt die Deutsche Bahn.
Und in Bremen kommt man dem Alltag des deutschen Weltraumpioniers so nah wie sonst nirgends. Die Hansestadt hat neben Labskaus und Knipp ungeahnte Spezialitäten zu bieten. Was bei einem Spaziergang durch die historische Altstadt, durch das Schnoorviertel und an der Weserpromenade entlang nicht zu sehen ist: In der Stadt arbeiten 12000 Menschen in der Luft- und Raumfahrt, mehr als 140 Unterneh- men und 20 Institutionen sind dort angesiedelt. Das gotische Rathaus wurde von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt, zusammen mit dem Bremer Roland, einer fünfeinhalb Meter hohen Statue, die vor mehr als 600 Jahren auf dem Marktplatz errichtet wurde. Touristen fotografieren sich vor der Bronzeplastik der Bremer Stadtmusikanten an der Rathausseite. Das sieht eher nach Märchen als nach Weltraumforschung aus. Doch die Stadt gehört in diesem Bereich international zu den wichtigsten Adressen, aktuell findet hier zum zweiten Mal der Internationale Astronauten Kongress statt. Noch bis 5. Oktober diskutieren etwa 4000 in der Raumfahrt Beschäftigte zum Thema. Bremen hat anlässlich des Kongresses das „Raumfahrtjahr 2018“ausgerufen und will damit die Bedeutung des Standorts unterstreichen.
Schließlich wissen selbst viele Bremer nicht, was es in ihrer Stadt zu entdecken gibt. Etwa, was in dem ungewöhnlichen Bau an der Universität vor sich geht. Dort ragt ein 146 Meter hoher schmaler Turm in den Himmel, der mit seiner Glasspitze eher wie ein Bleistift als wie ein Schornstein aussieht. Drinnen gibt es einen Raum mit tollem Blick über die Stadt, in dem man heiraten kann. Doch dieser Turm ist nicht nur ein extravagantes Standesamt, sondern der Fallturm von ZARM, dem Zentrum für angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation.
Dort arbeitet Thorben Könemann, der erklärt, warum es Mikrogravitation heißt, und nicht Schwerelosigkeit: „Es gibt keine hundertprozentige Schwerelosigkeit“. Komplett schwerelos sei ein Gegenstand, auf den keine äußeren Kräfte einwirken. Gravitation lasse sich nicht ausschalten, nur minimieren. Und das passiert im Fallturm. Wie? Könemann lässt zur Demonstration einen Kulli zu Boden fallen. Im Fallturm stürzt eine Kapsel, in der Experimente aufgebaut sind, aus 110 Meter in die Tiefe. Für den Sturz wird in der Röhre im Turm ein Vakuum erzeugt – hier würden eine Bowlingkugel und eine Feder gleich schnell fallen. So entsteht für 4,7 Sekunden Mikrogravitation. Auf die Kapsel wirkt während des Falls nur ein Millionstel der normalen Gravitation. Die Erdanziehung ist weiterhin da – aber erst spürbar, wenn der Körper auf einen Widerstand prallt, etwa den Boden. Vergleichbar ist das mit einem Freifallturm auf dem Jahrmarkt, bei dem sich Passagiere auch kurz schwerelos fühlen. „Das sind zwar nur ein paar Sekunden, aber man kann wirklich viel in dieser Zeit machen“, sagt Könemann.
Um die Zeit zu verlängern, gibt es in Bremen einen Katapultstart – die Kapsel wird nach oben geschossen, bevor sie zurück stürzt. Damit lassen sich 9,3 Sekunden Mikrogravitation erreichen. Seit der Turm 1990 fertiggestellt wurde, haben Wissenschaftler dort mehr als 8000 Mal etwas in die Tiefe geworfen. Die Experimente sind vergleichsweise günstig – denn ein Kilo auf die ISS zu befördern kostet etwa 20 000 Usdollar. Trotzdem gibt es weltweit nur zwei vergleichbare Anlagen. Der Turm in China sieht dem in Bremen recht ähnlich. In den USA führt ein Schacht unter die Erde – die Funktionsweise ist die gleiche.
Bei einer Führung durch den Turm bleiben Gruppen auf der untersten Ebene. Oben lockt zwar der Blick über die Stadt – aus wissenschaftlicher Perspektive ist der Blick in den Turm von unten weitaus interessanter. Wenn man den kreisrunden orangenen Raum betritt, entdeckt man am Boden einzelne Styroporkügelchen. Sie stammen aus dem Abbremsbehälter, in den die Kapsel nach dem Sturz fällt.
Die größte Raumfahrtfirma in Bremen ist Airbus Defence and Space. Dort arbeiten etwa 1000 Menschen im Bereich der Raumfahrt. Besucher können bei einem Rundgang sehen, wie im Reinraum – steriler als ein Op-saal – das obere Segment für Ariane-5-trägerraketen gefertigt wird. Die Alufolienoptik ist der Strahlung im All geschuldet. Mit Ariane-raketen werden Lasten ins All transportiert. Das können Satelliten sein oder Wasser und Treibstoff für die ISS. Auch das Columbus-modul, der größte europäische Beitrag zur Internationalen Raumstation, ist hier entstanden. Deshalb hat Airbus das begehbare Modell aufgebaut.
Während es sich beim Columbusmodell um eine Nachbildung handelt, steht daneben auch ein Original. Das Raumlabor, Spacelab, ist der Vorgänger des Columbus-moduls und war von 1983 bis 1998 insgesamt 22 Mal im Weltall. Mittlerweile ist es außer Betrieb und wieder bei seinen Erbauern in Bremen gelandet, wo Besucher durch eine Scheibe einen Blick ins Innere werfen können. Gegen das Spacelab wirken die Iss-module fast geräumig. Das Labor war ja auch jeweils nur für einige Tage im All.
Ebenfalls bei Airbus aufgebaut sind mehrere Monitore, die Livebilder aus der ISS senden. Gerade schwebt etwas, das wohl ein Laptop ist, an den weißen Wänden entlang. Eine Hand greift ins Bild, rückt den Computer zurecht, dann erscheint der Hinterkopf von Alexander Gerst. Mit ihm kommunizieren können Besucher nicht. Dass er beobachtet wird, weiß Astro-alex aber. Die Live-bilder aus der ISS kann man online, etwa auf der Internetseite der Deutschen Luft- und Raumfahrtbehörde (DLR) ansehen.
Sowohl für den Fallturm, als auch für den Rundgang bei Airbus sollte man sich lange vorher anmelden. Die Touren finden neben dem Betrieb statt und sind begehrt. Wer wissenschaftsinteressiert nach Bremen reist, hat eine Alternative. Anschaulich – und ohne Anmeldung täglich zugänglich – ist das Universum Bremen. Kein klassisches Museum, sondern eine interaktive Wissenschaftsausstellung. Die Exponate sind keine Originale, es sind Experimente. Fast alles kann man ausprobieren. Es ist, als hätte jemand Zahlen aus dem Physikunterricht entfernt und den lustigen Teil übrig gelassen.
Die Experimente sind auf drei Ebenen aufbaut, welche die Bereiche Technik, Mensch und Natur umfassen. Im Technik-bereich lassen sich etwa Stromkreise zusammenstecken; im Stockwerk des Menschen kann man durch Körperschnitte wandern; auf der Natur– Ebene nimmt man auf einer Couch Platz und erlebt mit einem Erdbebensimulator, wie die Wände 1906 in San Francisco gewackelt haben. Hinzu kommen Wissenschaftsshows und Sonderausstellungen. Aktuell etwa die Ausstellung „Space Girls Space Women“. Im Erdgeschoss sind riesige Porträts von Frauen aufgebaut, die in der Raumfahrt arbeiten. Auch ihre Biografie ist zu lesen. Die Ausstellung soll insbesondere junge Mädchen motivieren, nach den Sternen zu greifen.
(Beinahe) völlig losgelöst in der Mikrogravitation