Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus (15)
Frankenstein ist jung, Frankenstein ist begabt. Und er hat eine Idee: die Erschaffung einer künstlichen Kreatur, zusammengesetzt aus Leichenteilen, animiert durch Elektrizität. So öffnet er gleichsam eine Büchse der Pandora, worauf erst einmal sechs Menschen umkommen … © Projekt Gutenberg
Das Ungetüm, dem ich das Leben gegeben, schwebte mir immer vor und in meinen Fieberphantasten spielte es die Hauptrolle. Henry wußte sich anfangs meine Reden nicht zu deuten und hielt sie jedenfalls für die Produkte eines fieberglühenden Gehirns. Da sich aber dieselben Szenen immer wiederholten und meine Gedanken immer auf denselben Punkt zurückkehrten, wurde er sich doch klar, daß irgend ein seltsames, schreckliches Ereignis zu meiner Erkrankung den Anlaß gegeben haben mußte.
Sehr langsam schritt meine Genesung vorwärts, immer wieder aufgehalten durch Rückfälle, die meinem Freunde viel Gram und Sorge verursachten. Ich erinnere mich noch genau des Augenblickes, da ich zum ersten Male wieder Dinge wahrnahm, die mich umgaben; wie ich mich darüber freute, daß die gefallenen Blätter nun nicht mehr zu sehen waren, sondern daß die Knospen an den Bäumen vor meinem Fenster aufsprangen. Es war ein wunderschöner
Frühling, der zu meiner Gesundung ein gut Teil beitrug. Ich empfand, wie sich Gefühle der Liebe und Freude wieder in meiner Brust zu regen begannen. Allmählich wich der Alb von mir, der mich so bedrückt hatte, und nach kurzer Zeit war ich so froh wie damals, als mich jene unselige Leidenschaft noch nicht gepackt hatte.
»Teurer Clerval,« sagte ich, »wie gut und edel du bist! Diesen ganzen Winter hast du mir geopfert statt zu studieren. Wie soll ich das je heimzahlen? Ich mache mir bittere Vorwürfe, denn ich war ja die Ursache, und bitte dich mir zu verzeihen.«
»Ich will nichts, als daß du dich nicht aufregst und möglichst bald gesund wirst; und da du dich gerade in so guter Laune befindest, darf ich doch etwas mit dir besprechen?«
Ich zitterte. Etwas! Was konnte das sein. Vielleicht dies Etwas, an das ich gar nicht zu denken wagte?
»Rege dich nicht auf,« sagte Clerval, der bemerkt hatte, wie ich blaß wurde, »wenn es dich quält, will ich nicht weiter davon reden. Aber ich wollte nur sagen, daß dein Vater und Elisabeth glücklich sein würden, wenn sie endlich einmal wieder einen Brief von deiner eigenen Hand erhielten. Sie wissen ja nicht, wie krank du warst, und dürften sich deinetwegen ängstigen.«
»Ist das alles, lieber Clerval? Glaubst du nicht, daß meine Gedanken zu denen fliegen, die ich liebe und die meine Liebe wirklich verdienen?«
»Nun denn, mein Freund, dann wird es dir jedenfalls auch Freude machen, diesen Brief zu öffnen, der seit einigen Tagen hier liegt und auf dich wartet. Er ist von Elisabeth, wenn ich nicht irre.«
6. Kapitel
Der Brief, den mir Clerval übergab, war von Elisabeth und lautete:
Liebster Viktor!
Du bist krank gewesen, sehr krank, und auch die immerwährenden Briefe des guten, lieben Clerval können mich nicht genügend beruhigen. Ich weiß, daß Du nicht schreiben, keine Feder anrühren darfst; aber ein Wort, ein einziges Wort von Dir genügt, um unsere Befürchtungen zu zerstreuen. Ich meinte, jede Post könne dieses einzige Wort endlich bringen, und nur meine feste Überzeugung, daß das geschehen müsse, hielt Onkel davon ab, die Reise nach Ingolstadt zu unternehmen. Ihn habe ich allerdings abgehalten, die Unbequemlichkeiten, ja sogar Gefahren dieser langen Reise auf sich zu nehmen; aber wie oft habe ich es bedauert, daß ich selbst sie nicht wagen konnte! Ich bildete mir ein, daß den Dienst an Deinem Krankenbett eine alte Lohnpflegerin tat, die niemals Deine Wünsche so erraten und sie so erfüllen konnte, wie es Deine arme Elisabeth verstanden hätte. Aber das ist nun vorüber! Clerval schreibt, daß es Dir in der Tat wieder wesentlich besser geht, und ich bitte Dich flehentlich, mir dies mit eigener Hand zu bestätigen.
Werde nur bald wieder gesund und komme dann wieder heim zu uns. Du wirst ein glückliches, friedliches Heim finden und fühlen, wie sehr die Deinen an Dir hängen. Dein Vater ist noch sehr rüstig und hat keinen anderen Wunsch als den, Dich zu sehen, zu wissen, daß es Dir wohl geht. Dann trübt aber auch keine Wolke sein gütiges Antlitz. Wie wirst du Dich freuen, Ernst wiederzusehen. Wie der groß geworden ist! Er ist jetzt gerade sechzehn Jahre und voller Übermut und Kühnheit. Als echter Schweizer beabsichtigt er, in fremde Kriegsdienste zu treten; allerdings sind wir damit nicht recht einverstanden, wenigstens so lange der ältere Bruder noch fort ist. Dein Vater will von der Sache überhaupt nichts wissen, aber Ernst besaß nie Deinen Fleiß und Deine Freude am Studium. Er sieht es mehr als etwas Nebensächliches an und verbringt seine Zeit meist in der frischen Luft, auf Berghängen und am Seegestade. Ich fürchte, daß er ein Müßiggänger wird, wenn wir seinem Willen nicht nachgeben und ihn den Beruf wählen lassen, den er sich in den Kopf gesetzt hat.
Bei uns hat sich recht wenig geändert; nur die Kleinen sind herangewachsen, seit Du von uns gegangen bist. Der blaue See, die Berge mit ihren Schneehäuptern – sie verändern ihr Antlitz nicht. Und mir scheint es, als herrschte in unserem ruhigen Heim und in unseren friedlichen Herzen dasselbe Gesetz der Unveränderlichkeit. Meine alltäglichen Beschäftigungen füllen meine Zeit ganz aus und machen mir Freude, und mein Lohn ist es, wenn ich frohe, glückliche Gesichter um mich sehe.
Nur etwas ist in unserem kleinen Haushalt anders geworden, seit Du nicht mehr hier bist. Erinnerst Du Dich noch, wie Justine Moritz zu uns kam? Vielleicht nicht mehr, darum will ich Dir die Sache mit ein paar Worten ins Gedächtnis zurückrufen.
Frau Moritz war eine Witwe mit vier Kindern, von denen Justine das dritte war. Dieses Mädchen war immer ihres Vaters Liebling gewesen; aber merkwürdigerweise mochte ihre Mutter sie nicht ausstehen und behandelte sie sehr schlecht, als der Vater tot war. Meine Mutter merkte das und machte Frau Moritz den Vorschlag, die Kleine, die eben erst zwölf Jahre alt geworden war, in unserem Hause dienen zu lassen. Die republikanischen Einrichtungen unseres Landes bringen einfachere und schönere Lebensformen mit sich, als man sie vielleicht in den Monarchien, die uns umgeben, kennt. Deshalb ist auch kein so großer Unterschied zwischen der wohlhabenden und der dienenden Klasse, und die letzteren sind deshalb, weil sie nicht als minderwertig gelten, feiner und moralischer als ihre in der gleichen Lage befindlichen Mitmenschen in anderen Ländern. Ein Dienstmädchen in Genf ist etwas wesentlich anderes als ein solches in Frankreich oder in England. Justine, die in unsere Familie eintrat, nahm allerdings eine dienende Stellung ein, die aber in unserem glücklichen Lande weder Unwissenheit bedingt noch auch ein Opfer der Menschenwürde bedeutet.
16. Fortsetzung folgt