Den Abgrund erkunden
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux stellt sich im Alter dem Trauma, das sie mit 18 erfahren hat
In ihrem 2017 auf deutsch erschienenen autobiografischen Werk „Die Jahre“erzählt Annie Ernaux sieben Dekaden ihres Lebens. Sie führt ihre persönliche Lebensspur – Kindheit in kleinbürgerlichen Verhältnissen, Studium, Lehrerin, Mutter mit Familienleben, späte Emanzipation – mit präzisen Erkundungen der französischen Gesellschaft zusammen. Privates und Öffentliches sind in diesem Buch wie kommunizierende Röhren. Annie Ernaux erzählt von sich – aber ihre Zeitgenossen erkennen ihr eigenes Leben wieder in dieser aufrichtigen und wahrhaftigen Literatur.
Die 1940 geborene Französin, die erst spät zu Ruhm gekommen ist, streift in „Die Jahre“nur kurz ein Erlebnis, das sie ihr Leben lang im Innersten vergraben hat. Doch sie hat sich dieser verdrängten Schlüsselphase ihres Lebens, in der es um prägende sexuelle Erfahrungen, Scham und traumatische Erlebnisse ging, schließlich gestellt. Die über 70-Jährige hat aufgearbeitet, was im Sommer 1958 mit der damals 18-Jährigen Annie geschah. Das Ergebnis, ein schmaler Band mit dem Titel „Erinnerung eines Mädchens“, ist ein bewegendes Stück Literatur. Die führenden deutschen Literaturkritiker haben es auf Platz 1 ihrer SWR-Bestenliste für Dezember gestellt. Annie Ernaux, die sich treffend als „Ethnologin ihrer selbst“bezeichnet, begibt sich auf einen Weg voller Widerstände. Durch Selbstbefragung, Selbstprüfung, Rekonstruktion und Erinnerungsarbeit schreibt sie sich hinein in die Wunde, die ihr Frau-Sein bestimmt hat. „Erinnerung eines Mädchens“ist auch ein Werkstattbericht über das Schreiben, eine Art Operation am offenen Herzen der Literatur. „Einfach nur ,das Leben genießen’ ist eine unerträgliche Aussicht, denn ohne Buch, an dem man schreibt, ist es, als wäre jeder Moment der letzte.“
Was ist geschehen im Sommer 1958, als die junge Annie, in einer Kleinstadt in Nordfrankreich katholisch und überbehütet als Einzelkind erzogen, erstmals ihr Elternhaus verlässt, um als Betreuerin in einer Ferienkolonie zu arbeiten? Es ist eine Befreiung, die missglückt und in größter Verwirrung der Gefühle endet. Das Mädchen feiert mit der Clique der Betreuer, verliebt sich in den Anführer, unterwirft sich ihm, der mit ihr spielt, sie sexu- ell benutzt, missbraucht und dann ignoriert. Annie wirft sich an andere ran, verliert die Kontrolle, will Objekt der Begierde sein, wird als Hure geschmäht, schämt sich. Über lange Zeit wirken die Erlebnisse des Sommers 1958 in ihrem Leben nach. Monatelang bleibt die Periode aus.
In ihrem Buch legt Ernaux die traumatischen Erfahrungen von damals frei. „Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.“Wer ihr Buch liest, begleitet Annie Ernaux auf einer Recherche. Die Entstehung des Buches ist ebenso Thema wie das Instrumentarium, mit dem sie durch die Verhärtungen und Verwachsungen der Jahrzehnte durchdringt zu dem Mädchen, das sie war. Ernaux betrachtet Fotos von damals, lässt diese Bilder sprechen, beschwört Namen von einst. Sie ist Detektivin des eigenen Lebens. Sie spricht in IchForm und betrachtet sich als Außenstehende. „Welche Überzeugung treibt sie an, wenn nicht die, dass Erinnern eine Form der Erkenntnis ist? (...) Was, wenn nicht die Hoffnung, dass es zumindest eine Spur von Ähnlichkeit gibt zwischen diesem Mädchen, Annie, und irgendwem anders.“
Das Exemplarische ihres Lebens – das ist der Stoff, aus dem Annie Ernaux in einer meisterhaft komponierten Suchbewegung Literatur schafft. Sie erzählt im Präsenz, immer ist Erinnerung Gegenwart. Vielfach gebrochen, vielschichtig, reflektiert, zweifelnd, schonungslos ehrlich. „Die Sinnlosigkeit des Erlebten in dem Moment, in dem man es erlebt, vervielfacht die Möglichkeiten des Schreibens“, schreibt Ernaux. Ihr autobiografisches Schreiben erzeugt einen Sog, der lange nachwirkt.
» Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens Suhrkamp, 163 Seiten, 20 Euro