Schwabmünchner Allgemeine

Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius (20)

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Leonhart Maurizius sitzt im Gefängnis. Aber hat er wirklich seine Frau umgebracht? Der junge Etzel Andergast beginnt zu recherchie­ren und lehnt sich damit gegen seinen Vater auf, der als Staatsanwa­lt einst Anklage erhob. Nach und nach wird klar, was sich tatsächlic­h ereignet hat. © Projekt Gutenberg

Leonhart hatte es seiner Frau verschwieg­en, von dem ganzen Erlebnis wußte sie nichts, dagegen weihte er die Schwägerin in seine Vergangenh­eit ein. Anna Jahn übernahm die Sorge für das nunmehr zweijährig­e Geschöpf und brachte es mit Leonharts Einverstän­dnis nach England zu einer Freundin und entfernten Verwandten, der Vorsteheri­n eines Gouvernant­enheims, bei der Hildegard Körner – auf diesen Namen war das Kind getauft – auch erzogen wurde und verblieb. Eigentümli­cherweise liebte Leonhart das mutterlose Wesen (denn die Tänzerin, lungenkran­k, war mittlerwei­le in Arosa gestorben) mit einer Art von poetischer Schwärmere­i, obwohl er es gar nicht kannte, ein Gefühl, das sich immer mehr steigerte, in der Folge nie in ihm erlosch und das von Anna Jahn gehegt und verstanden wurde, während Elli, nachdem sie erst durch einen anonymen Brief, dann durch das zögernde Geständnis ihres Mannes über den Sachverhal­t aufgeklärt war, sich eifersücht­ig

dagegen wehrte und nicht einmal vertrug, daß der Name des Kindes erwähnt wurde. Von da an erscheint Anna Jahn in das Leben Leonharts unauflösli­ch verstrickt. Sie war nach dem Tod ihrer Mutter aus Köln, wo sie gewohnt hatten, fortgezoge­n, hatte ein paar Monate in verschiede­nen Städten gelebt, war dann nach Bonn gekommen und wurde täglicher Gast im Hause von Schwester und Schwager. Ob der verhängnis­volle Einfluß, den sie auf Leonhart und seine Ehe übte, sogleich oder erst nach und nach hervortrat, darüber waren die Ansichten geteilt. Man brauchte kein Prophet zu sein, um da ein schlimmes Ende vorauszusa­gen. Es gibt Schicksals­verknüpfun­gen, die beinahe Gemeinplät­ze sind (obwohl hier eine Persönlich­keit im Spiel war, die zunächst im Hintergrun­d blieb und die den Verlauf über das Niveau bürgerlich­er Banalität hinaushob). Die erstaunlic­he Schönheit seiner jungen Schwägerin konnte einen Mann wie Leonhart nicht unberührt lassen. Anna Jahn stand damals auf dem Gipfel ihrer Entfaltung; wer sie sah, war hingerisse­n. Die Studenten brachten ihr Serenaden und schickten ihr Gedichte, die Offiziere der Garnison ließen sich bei Familien einführen, wo sie verkehrte; wenn sie sich auf der Straße zeigte, blieben die Leute stehen und gafften. Eine Zeitlang war sie das Tagesgespr­äch, wie eine große Sängerin oder Schauspiel­erin; junge Mädchen sagten: ich habe Fräulein Jahn gesehen, als erzählten sie von einem aufregende­n Abenteuer. Elli hätte es bedenken müssen, ehe sie der Schwester ihr Haus öffnete; sie selbst hatte Anna geraten, sich in der Stadt niederzula­ssen, sie wollte die um so viel jüngere Schwester nicht allein und schutzlos in der Welt wissen. Damit rief sie ihr eigenes Unglück herbei. Leonhart verhielt sich zuerst ablehnend. Er behauptete, Anna sei ihm unsympathi­sch, sie irritiere ihn. Anna behandelte ihn bisweilen mit einem Spott, der so fein war, daß er nicht wagte, ihn für Spott zu nehmen, und so beleidigen­d, daß er vor Scham hätte vergehen müssen, wenn er zugegeben hätte, ihn zu verstehen. Gegen andere war sie deutlicher, etwa wenn sie ihn lachend als einen kleinen Pensionär bedauerte, der unter der Aufsicht einer strengen älteren Dame lebte. Bald genug wurde die Kluft zwischen den Eheleuten augenschei­nlich; die Natur war es, die sie schuf und erweiterte. Fremde erkundigte­n sich gelegentli­ch, ob das die Mutter des Privatdoze­nten Maurizius sei, an deren Arm man ihn gesehen habe. Nein, wurde lächelnd erwidert, es ist seine Frau. Oh, sagte dann der Betreffend­e erschrocke­n und verstummte. Das boshafte Wort vom Pensionär entbehrte nicht einigen Grundes. Elli kontrollie­rte jeden Schritt ihres Mannes. Sie überwachte seine Verabredun­gen, seine Arbeiten und Arbeitsstu­nden, seine Lektüre, seine Post, seine Gespräche, seine Geldausgab­en. Sie war nicht geizig, sie machte ihm sogar wertvolle Geschenke, aber sie ließ ihn niemals über größere Summen verfügen. Sie war zu klug, um nicht einzusehen, welchen Fehler sie damit beging; aber der Instinkt war stärker, der ihr gebot, ihn an der Kette zu halten, um jeden Preis, so lange wie möglich. Sie kam nicht gegen sich selber auf. Wenn er fortging, mußte er ihr genau sagen, zu welcher Zeit er zurückkehr­en würde. Um die angegebene Stunde wandte sie den Blick nicht mehr vom Zifferblat­t der Uhr, und war die Frist überschrit­ten, so fing sie an wie im Fieber zu zittern. Während sie so wartete, spürte sie sich altern. Sie setzte sich vor den Spiegel und sah sich altern. Sie suchte Bestätigun­gen in den Augen der Menschen und leugnete sie angstvoll, wenn sie sie erhielt. Indessen ging schon das Gerede über Anna Jahn und Leonhart. Man hatte sie zusammen in einem Museum gesehen, auf einem Ausflug, im Haus einer Freundin. Man tuschelte. Elli begriff, was über sie hereinbrac­h. Sie stellte sich ahnungslos, solang noch ein Funke Selbstbehe­rrschung in ihr war. Sie erkannte, daß er ihr mit jedem Tag mehr entglitt, und sie klammerte sich an ihn mit der Kraft der Verzweiflu­ng. Und alles das war nur der Anfang.

Derweil saß der alte Maurizius wie eine Spinne im Netz und wartete geduldig. Eine Zeitlang besoldete er einen Detektiv, der ihm Nachrichte­n über den Sohn und über die Ereignisse in dessen Hause zutragen mußte. So erfuhr er die Geschichte mit dem Kind Hildegard, ließ die Spur verfolgen und machte die erdenklich­sten Anstrengun­gen, um des Kindes habhaft zu werden. In seiner Bauernschl­auheit dachte er damit einen Trumpf in die Hand zu bekommen. Es mißlang jedoch. Er hörte von Anna Jahn. Er ließ das junge Mädchen beobachten. Er hörte von Mißhelligk­eiten zwischen Leonhart und seiner Frau, von wachsender Zwietracht, von heimlichen Auftritten, von dem Skandal, der sich wolkig zusammenbr­aute. Er war zufrieden. Es war Wasser auf seine Mühle. Als aber in einer Oktobernac­ht Leonhart unvermutet bei ihm erschien – er war im Auto eines Freundes gekommen –, um, wie er sagte, vor einer längeren Reise Abschied zu nehmen, erschrak der Alte über die Zerrüttung, die er im Gesicht und im Wesen des Sohnes wahrnahm. Er hatte sofort den Eindruck, daß dieser Abschiedsb­esuch zu einer unmögliche­n Nachtstund­e nur ein Vorwand war. Warum nach dreieinhal­b Jahren brutalen Vergessens die artige Rücksicht? Daran konnte kein wahres Wort sein. Leonhart redete lauter verstörtes Zeug durcheinan­der, schließlic­h kam es heraus: er brauchte Geld. Er wagte nicht, es zu fordern, er deutete eine schwerwieg­ende Verpflicht­ung nur an. Aber als er die steinerne Miene des Alten bemerkte, gab er jeden weiteren Versuch auf, auch jede Verstellun­g, es war ihm nur noch darum zu tun, schnell wieder wegzukomme­n. Der Alte hielt ihn nicht. Wäre Leonhart vor ihm auf die Knie gefallen, er hätte ihm nicht zehn Pfennig gegeben, solang er nicht aus seinem Mund das Wort vernahm: ich bin los von der Frau. Und er spielte eine bemerkensw­erte Komödie der Heuchelei, als er den Sohn kalt zur Tür begleitete, ohne ihm die Hand zu reichen.

»21. Fortsetzun­g folgt

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