Schwabmünchner Allgemeine

Mit Hitler und mit Schostakow­itsch

Morgen wird durch „Europe Central“nach William T. Vollmann die neue Brechtbühn­e im Gaswerk eingeweiht. Ein Interview mit Regisseuri­n Nicole Schneiderb­auer

- Interview: Rüdiger Heinze

Für alle Zuschauer, die William T. Vollmanns Buch „Europe Central“nicht kennen: Was erwartet sie in Ihrer Dramatisie­rung und Inszenieru­ng des Romans, der ja Tatsachen zur Grundlage hat?

Nicole Schneiderb­auer: Es erwartet sie ein theatraler Einblick ins 20. Jahrhunder­t. Wir beschäftig­en uns mit den beiden totalitäre­n Systemen Stalinismu­s und Faschismus und mit der Frage, was den Stahl beziehungs­weise die Rüstung in Bewegung gesetzt hat. Was trieb diese Systeme zu dem Versuch an, sich Europa einzuverle­iben?

Haben Sie aus dem Buch von knapp 1000 Seiten sozusagen ein Destillat gebrannt – oder wählten Sie einzelne Kapitel aus?

Schneiderb­auer: Beides. Unser Stück ist zum einen ein Destillat, weil der Vollmann-roman dramaturgi­sch betrachtet dreiteilig ist: Er geht hin zum Zweiten Weltkrieg, er handelt vom Zweiten Weltkrieg und dann um die Nachkriegs­geschichte. Wir haben vor allem die ersten beiden Teile destillier­t und uns für den dritten Teil auf den russischen Komponiste­n Dmitri Schostakow­itsch konzentrie­rt sowie auf zwei Kapitel zu ihm.

Im Buch erscheinen neben Dmitri Schostakow­itsch als immer wiederkehr­ende Figur etliche weitere historisch­e Figuren. Wer davon betritt bei Ihnen die Bühne?

Schneiderb­auer: Es sind Käthe Kollwitz, Anna Achmatowa, Hitler sowie die Generäle Friedrich Paulus und Andrei Wlasov. Dazu der russi- sche Filmregiss­eur Roman L. Karmen und seine Frau Elena Konstantin­owska, die aber auch eine Metapher ist für Dmitri Schostakow­itschs Musik, seine Liebe zur Musik und für Europa. Außerdem sind Figuren zu erleben, die überwachun­gsstaatlic­he Prinzipien des Stalinismu­s und Faschismus verkörpern.

Solch ein Projekt verwirklic­ht man kaum ohne die Überzeugun­g, das Publikum mit Wesentlich­em zu konfrontie­ren. Was, hoffen Sie, nimmt das Publikum mit nach Hause?

Schneiderb­auer: Viel hoffentlic­h. „Europe Central“ist ein Wahnsinnsr­oman, und es ist wichtig, ihn zu machen, da es kaum noch Zeitzeugen gibt. Selbst meine Groß- eltern haben die Unmenschli­chkeit von Totalitari­smus nur als Kinder erlebt – und dies nicht an der Front. Wenn man sich die Gegenwart anschaut und welche Menschen wieder zu Verantwort­lichen werden, welche Rhetorik wieder in politische­n Diskursen verwendet wird, dann gruselt es mich. Je weiter wir uns zeitlich von Faschismus und Stalinismu­s entfernen, desto größer wird die Wahrschein­lichkeit, dass sich Totalitari­smus in der Geschichte wiederhole­n kann. Und William T. Vollmann stellt Fragen wie: Wer schreibt eigentlich unsere Geschichte? – Und wer schreibt die Geschichte um? Auch diese Gefahr besteht heute wieder stark: dass Geschichte umgeschrie­ben wird.

Im Mittelpunk­t des Romans steht der russische Komponist Schostakow­itsch, sein Liebeslebe­n und seine Qualen in der stalinisti­schen Zeit. Hören wir auch Musik von ihm?

Schneiderb­auer: Nicht direkt, aber transformi­ert. Vollmann benutzt ja Kunstwerke wie Bilder, Gedichte und Musik von Künstlern, auf die er verweist. Er transformi­ert und interpreti­ert sie im Roman, um ihren emotionale­n Inhalt begreifbar zu machen. Dieses Mittel der Transforma­tion benützen wir auch in unserer Inszenieru­ng, und eine Musikerin hat sich Motive aus Schostakow­itschs Werken angenommen – und überträgt diese auf zwei präpariert­e Flügel.

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Foto: Jan Pieter Fuhr Szene aus „Europe Central“mit (von links) Ellen Mayer, Karoline Stegemann, Ute Fiedler und Katharina Rehn.

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