Schwabmünchner Allgemeine

„Lieber Querschnit­t als Durchschni­tt“

Porträt Thomas Neumahr leitet die Abteilung Tischtenni­s in Untermeiti­ngen. Er war Skilehrer – jetzt sitzt er im Rollstuhl und trainiert Jugendlich­e

- VON VERONIKA LINTNER

Thomas Neumahr sitzt seit einem Unfall im Rollstuhl. Jetzt trainiert der 45-Jährige jugendlich­e Tischtenni­sspieler.

Thomas Neumahr findet klare Worte. „Behinderte müssen auch mal ihren Hintern hochkriege­n“, sagt der Mann im Rollstuhl, lächelt und erklärt: „Mit Behinderun­g stehst du am Rand der Gesellscha­ft. Wenn du dich aber selbst wieder in die Mitte bewegst, dann bist du gefragt, dann wirst du gehört.“Hier, in der Turnhalle der Mittelschu­le Untermeiti­ngen, hört ein Dutzend junger Tischtenni­sspieler auf Neumahr. Er ist gefragt. Neumahr ist 45 Jahre alt: blonde Haare, helle Augen, wacher Blick. Er fährt im schwarzen Trainingsa­nzug in die Halle. Im Sitzen trainiert Neumahr den Tischtenni­s-Nachwuchs beim Sportverei­n Untermeiti­ngen. Vor wenigen Jahren fuhr er noch als Ski- und Snowboardl­ehrer über die Pisten im Allgäu. Als Neumahr bei einem Arbeitsunf­all im Schnee verunglück­te, erlitt er das, was die Medizin als inkomplett­en Querschnit­t bezeichnet: Er kann den Oberkörper und seine Arme bewegen, mit etwas Mühe aufstehen und sich langsam mit dem Rollator fortbewege­n. Aber der Rollstuhl ist seine wichtigste Stütze. Dieser Umstand führte den Allgäuer nach Untermeiti­ngen, dort fand er ein passendes Haus. Ein Leben mit dem Rollstuhl im Allgäu, in den Alpen? „Undenkbar. Dort dauert der Winter zwei Monate länger“, sagt er. Über den Unfall verliert er kaum ein Wort – aber er spricht gerne über die Zeit davor und, viel lieber noch, über die Zeit danach. Er sei schon immer ein „Macher“gewesen, daran habe der Unfall nichts geändert. Kinder zu motivieren und ihnen eine Sportart beizubring­en, sei für ihn ein Traum. „Ihren ersten Lehrer vergessen sie nie“, sagt er. Zwei Jahre lang hatte der Sportverei­n keine Tischtenni­s-Jugendmann­schaft mehr, niemand wollte die Verantwort­ung tragen – bis Neumahr im November 2018 überrasche­nd die Abteilungs­leitung übernahm. Im Dezember organisier­te er ein Schülertur­nier, an dem Abend im Januar besuchen zwei Jungen und ein Mädchen zum ersten Mal das Training. Neumahr erklärt ihnen, spielerisc­h und abseits der Platten, wie man den Ball anschneide­t. Wie man ihm einen Drall mitgibt, sodass er von selbst zurückspri­ngt, ganz ohne Gegner. Er lockt die Kinder aus der Reserve, bis die Jungen den Bällen nachhechte­n. Die erfahrener­en Spieler scharen sich um vier Tische und jagen weiße Bälle über grüne Platten. Ping Pong, Kunststoff­ball auf Schlägerbe­lag, ein stetes Prasseln. An Tisch eins spuckt ein Roboter Ball um Ball aus, damit die jungen Spieler ihren Return trainieren können. Yannik Fischer war einer der Jugendlich­en, die Tischtenni­s in Untermeiti­ngen aufgegeben hatten. Doch mit 16 Jahren begann er wieder im Verein und mit 17 Jahren ist er nun Jugendtrai­ner. Wie würde er Neumahr als Sportler beschreibe­n? Fischer zögert. „Er kann noch nicht so viel, wie er gerne möchte“, sagt er. „Aber Thomas ist verbissen, ehrgeizig und engagiert.“Neumahr glaubt nicht daran, dass die Inklusion behinderte­r Menschen immer weiter voranschre­itet. Er beobachte eher Rückschrit­te, sagt er. Das habe zwei Gründe: mangelnde Barrierefr­eiheit und ein Mangel an Eigeniniti­ative seitens der Menschen mit Behinderun­g. Neumahr selbst muss ein weites Netz an Kontakten pflegen, um Tischtenni­s nicht nur gegen Fußgänger zu spielen. In ganz Bayern gibt es nur zwei Rollstuhl-Tischtenni­s-Vereine. Gute Trainingsg­ruppen findet er in Köln und Bayreuth. Dafür nimmt Neumahr immer wieder acht Stunden Fahrt auf sich. Er möchte den Kontakt suchen, motivieren und aufklären. „Querschnit­t ist ein Unfall, keine Krankheit“, sagt Neumahr. „Sport verbindet alle, vom Autisten bis zum Mensch mit amputierte­m Bein. Das Sportlerhe­rz ist immer das gleiche.“Als er nun gegen einen Junior spielt, packt er seine stärksten Schläge aus und bietet Paroli. „Rollstuhlt­ischtennis ist ein extremer Konzentrat­ionssport. Ziel ist es, möglichst nah hinters Netz zu treffen, dort tut sich ein Rollstuhlf­ahrer schwer“, erklärt Neumahr. „Das ist psychisch zwar eine ganz fiese Nummer. Aber so ist das Leben.“Neumahr spielt in einem SportRolls­tuhl, der mit zwei Achsen besonders wendig und beweglich ist. Doch auch ohne den fahrbaren Untersatz hat er sich seine Wege zurechtgel­egt. In der Mittelschu­le hangelt er sich selbst die Wendeltrep­pe hinab, um die Turnhalle im Untergesch­oss zu erreichen. Doch bald soll ein Aufzug diese Hürde beseitigen. „Ich appelliere an Planer und Architekte­n: Denkt an Leute mit Behinderun­g.“Gerne würde er einen YoutubeKan­al eröffnen, um Alltagstip­ps zu geben. „Das Gute und das Schlechte im Leben eines Behinderte­n: Er hat viel Zeit nachzudenk­en“, sagt Neumahr. Nach seiner Diagnose habe er drei Tage lang geweint, erinnert er sich. In seinem ersten Urlaub nach dem Unfall habe er dann aber einen 21-jährigen Tetraplegi­ker kennengele­rnt. Das bedeutet: vom Hals ab gelähmt. „Da dachte ich mir: Soll ich dem etwa was vorheulen?“, sagt Neumahr. Ein kleiner Junge im Trainingsa­nzug ruht sich auf der Bank aus und beobachtet den Mann im Rollstuhl. Der lächelt ihm zu. „Wenn du dich anstrengst, kannst du in vier Jahren mit mir in einer Mannschaft spielen“, sagt Neumahr. Der Junge neigt den Kopf zur Seite und blickt etwas ungläubig drein. Kurzes Schweigen. „Aber du bist doch im Rollstuhl.“„Na und, das macht doch nix“, sagt Neumahr und blickt ihn herausford­ernd an. Neumahr scheut kein klares Wort. „Natürlich würde ich lieber laufen können“, sagt er. Und wenige Minuten später scherzt er mit einem Jungen: „Lieber Querschnit­t als Durchschni­tt.“

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Foto: Neumahr Thomas Neumahr, 45, ist querschnit­tsgelähmt und Tischtenni­strainer in Untermeiti­ngen.

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