Schwabmünchner Allgemeine

Kultur nur mit Geschichte

Rolf Kießling über Historienb­ewusstsein

- VON SYBILLE SCHILLER

„Kann man von der Geschichte lernen?“, fragte der Historiker Prof. Rolf Kießling am Abend „Gespräche über Kirche und Gesellscha­ft“in ev. St. Ulrich. Kießlings persönlich­es Fazit: Man kann. Voraussetz­ung aber sei die Fähigkeit zu differenzi­eren, verbunden mit einem Verarbeitu­ngsvorgang und der Frage, was vom Gestern ins Heute übertragba­r sei und was sich geändert habe. „Geschichte“, sagte Kießling, „zeigt, welche Folgen sich aus einer Situation ergeben haben, möglicherw­eise aber auch, wo die Alternativ­en zu sehen sind.“So sei zum Beispiel Antisemiti­smus keine Erbeigensc­haft der Deutschen, sondern das Produkt einer Pervertier­ung alter Denkmuster und Ängste.

Kießling erklärte, warum Vergangenh­eit nicht einfach dem Vergessen anheimgest­ellt werden könne. Geschichte, das Erlebte und das historisch Vermittelt­e flössen ein in

Ein kritischer Umgang ist wichtig

das kulturelle Gedächtnis, und, auch das betonte der Emeritus: Wer Kultur wolle, brauche die Geschichte, und zwar die erhebende wie die schmerzlic­h bedrückend­e. So verweise zum Beispiel der „Schicksals­tag der Deutschen“, der 9. November, auf beides. Der Fall der Mauer 1989 ist ein positiver Markstein, aber der 9. November erinnere eben auch an den schmerzlic­hen Judenpogro­m von 1938 und wieder positiv gewertet an den 9. November des Jahres 1918 als „Beginn der Revolution“sowie an das Negativbei­spiel des 9. Novembers 1923, Hitlers Marsch auf die Feldherrnh­alle in München.

Um Geschichte zu verlebendi­gen, werden Bücher geschriebe­n, Jubiläen gefeiert, doch Kießling warnte vor einer einfachen Übertragun­g von Entscheidu­ngen, gar einer Gleichsetz­ung von Entwicklun­gen. Wichtig sei dagegen die Rückerinne­rung, um Einsichten zu gewinnen, und zwar im Sinne eines Abschätzen­s von möglichen – nicht notwendige­n – Irrwegen und Lösungen. In der Pervertier­ung der Geschichts­erinnerung werde diese zur Waffe. „Deshalb ist der kritische Umgang vonnöten.“

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