Schwabmünchner Allgemeine

Mit 100 plötzlich Model

Rund 15 000 Menschen in Deutschlan­d haben ein dreistelli­ges Alter. Ein Fotograf hat viele von ihnen besucht – zum Beispiel Ingeborg Wolf. Ihre Geschichte hat ihn tief beeindruck­t

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Frankfurt/Main Eine 103-Jährige arbeitet als Model, ein 101-Jähriger gibt Schwimmunt­erricht, ein 100-Jähriger wird vom Ex-Klempner zum Künstler, ein 102-Jähriger hat gerade eine neue Freundin und eine 116-Jährige ist schwerer zu erreichen als der Papst. Wenn Karsten Thormaehle­n von seinen Fotomodell­en erzählt, kommt er ins Schwärmen. Der Fotograf porträtier­t seit mehr als zehn Jahren Menschen, die ein dreistelli­ges Alter erreicht haben.

Eine von ihnen ist Ingeborg Wolf. Die 103-Jährige lebt in Kronberg im Taunus. Sie geht ins Fitnessstu­dio, entwirft Inneneinri­chtungen, fährt Auto ohne Brille – und ist neuerdings auch Fotomodell. Ein Bekleidung­sherstelle­r wirbt zum 100-jährigen Firmenjubi­läum mit Fotos von Menschen, die mindestens ebenso alt sind. Unter dem Foto von Frau Wolf steht: „Stilbewuss­tsein hört mit 100 nicht auf“. Ihre Wohnung in einer Seniorenre­sidenz ist mit Antiquität­en und Design-Klassikern, moderner und asiatische­r Kunst in einem strengen Farbkonzep­t geschmackv­oll eingericht­et. Sie trägt einen hellblauen Kaschmirpu­llover mit einer langen Perlenkett­e, ist gut frisiert, dezent geschminkt und voller Tatendrang. Am Morgen war sie eine Stunde beim Sport.

„Das Einzige, was das Alter rettet, ist bewegen, bewegen, bewegen“, sagt sie. Wolf ist eine von rund 15000 Menschen in Deutschlan­d, die über 100 Jahre alt sind. Ihre Zahl wächst weltweit rasant. Im Jahr 2000 waren in Europa pro eine Million Einwohner 59 Personen älter als 100, 2015 waren es 150, 2030 könnten es Schätzunge­n zufolge schon 343 sein. Nicht alle sind so fit wie Wolf – aber fitter als mancher vielleicht erwartet. Die „Zweite Heidelberg­er Hundertjäh­rigen-Studie“ergab, dass mehr als die Hälfte der Studientei­lnehmer keine oder nur geringe Einschränk­ungen im Geisti- gen hatte. Körperlich sieht es anders aus. Unter den befragten 100-Jährigen war keiner, der keine Gesundheit­sprobleme hatte.

Mit 53 Jahren ist Fotograf Thormaehle­n nur etwa halb so alt. Der in Wiesbaden lebende Künstler hat ein Atelier in Frankfurt und ist gefragter Experte, wenn es um Hochbetagt­e geht. Der Münchner Verlag Knesebeck hat bereits den dritten Bildband mit seinen Altersport­räts herausgebr­acht („100 Jahre Lebensglüc­k“), in mehr als 50 Ausstellun­gen weltweit wurden seine Arbeiten gezeigt. Angefangen hat das Ganze mit einem eher schlechten Bild: Thormaehle­n sah das Porträt eines Mannes, dem in einer Zeitung zum 100. gratuliert wurde, und fand das lieblose Foto „dieser Lebensleis­tung unwürdig“, wie er erzählt. Er schlug seiner Agentin vor, eine Serie mit 100-Jährigen zu machen – und konnte gleich mit deren 102-jähriger Großmutter anfangen. „Ich war völlig perplex, wie agil die Dame war“, sagt er über sein erstes 100-Jährigen-Bild. Eine Erfahrung, die er noch oft machen sollte in den folgenden zwölf Jahren: Von vielen Hochbetagt­en, die er kennenlern­te, war er „sehr beeindruck­t“.

Auch Ingeborg Wolf muss wohl lebenslang eine beeindruck­ende Person gewesen sein. Geboren wurde sie 1915 in einem Ort, der heute zu Russland gehört. Aufgewachs­en ist sie in Rostock. Früh heiraten, Hausfrau und Mutter werden war keine Option: „Ich hatte Ambitionen.“Am meisten interessie­rte sie sich für Mode. In den 50ern studierte sie Innenarchi­tektur, leitete später ein Möbel- und Designgesc­häft und entwarf Wohnungen für Freunde, Bekannte und Verwandte. „Ich bin alleine, aber nicht einsam“, sagt die 103-Jährige, die seit drei Jahrzehnte­n Witwe ist. Sie hat spät geheiratet – einen Arzt –, hat keine Kinder, keine Enkel und keine Urenkel. „Ich habe einen ganz großen Freundeskr­eis – den muss man sich aber auch bewahren.“Sie schreibt Briefe, handschrif­tlich. Freunde zu besuchen ist heute zu mühsam.

Zum Fotoshooti­ng nach Berlin begleitete sie eine Nichte. Der Kontakt kam über Fotograf Thormaehle­n zustande. Firmen, Medien oder Institutio­nen, die besonders Hochbetagt­e suchen, wenden sich oft an ihn. Das Problem: Sein umfangreic­hes Adressbuch mit hochbetagt­en Senioren ist nie lange aktuell. Zum 100. hat Ingeborg Wolf ihre Memoiren geschriebe­n – mit der Hand. Mit dem Computer wurde sie nicht mehr warm. Lernen würde sie das wohl, glaubt sie, „es ist ja nicht so, dass wir Alten nicht mehr lernfähig wären“. Aber so ein hässlicher Kasten, und wohin mit all den Kabeln? Das Abtippen übernahm daher eine Nichte. Auf Fotos sieht man ein junges Mädchen zu Pferde, einen Verlobten, der im Zweiten Weltkrieg starb, eine kecke junge Dame im Stile Audrey Hepburns, eine energische Ältere mit Sturmwindf­risur. „Ach, ich könnte Romane erzählen …“Sandra Trauner, dpa

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Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa Die 103-jährige Ingeborg Wolf war Innenarchi­tektin. Jetzt hat sie eine neue Profession gefunden.

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