Schwabmünchner Allgemeine

Die Welt liegt in Falten

Wer verwendet in Zeiten von Navis noch Straßenkar­ten oder Stadtpläne? Eine Spurensuch­e

- / Von Birgit Schindele

Deutschlan­d ist zehn Mal gefaltet. Zumindest in dem 25 Zentimeter hohen, 13 Zentimeter breiten und 240 Gramm schweren Abbild der Bundesrepu­blik, das als Länderkart­e in Buchläden bereit liegt. Doch wer kauft sie eigentlich noch, die Karten aus Papier? Wann haben Sie das letzte Mal jemand gesehen, der tatsächlic­h mit einem Stadtplan in der Hand durch die Straßen zieht? Das aufgefalte­te Papier dreht und wendet, den aufgezeich­neten Plan mit der Umgebung abgleicht?

Der moderne Tourist gibt sich längst nicht mehr die Blöße, derart aufzufalle­n, sich mit einem schnöden Stück Papier als fremd zu kennzeichn­en. Vielmehr hält er lässig, fast beiläufig sein Smartphone in der Hand und schielt verstohlen auf den Bildschirm. Lässt sich leiten von der Technik. Gibt sich in den Momenten, die er nicht auf den blauen Punkt schaut, der ihn in dem digitalen Stadtplan verortet, dem Gefühl hin, dazuzugehö­ren.

Handys und Navis haben den Stadtplan „kannibalis­iert“, sagt Wolfgang Kolb. Er leitet die Kartografi­e-Abteilung der Reiseverla­gsgruppe Mairdumond. Stadtpläne haben im 21. Jahrhunder­t etwas Verstaubte­s, Überflüssi­ges an sich. Schließlic­h kann das Papier nicht mit einem Klick auf den neuesten Stand gebracht werden. Obendrein ist es unhandlich.

Und es löst ein leicht hilfloses Gefühl in einem aus, wenn man mit weit aufgespann­ten Armen versucht, sich auf dem schier endlosen Faltwerk zurechtzuf­inden. Oder schlimmer, wenn man versucht, dem Leporello wieder Herr zu werden. Denn ist es erst einmal aufgeblätt­ert, ist es wie mit Beipackzet­teln: Es ist schier unmöglich, sie wieder ohne Risse oder Wutanfälle zurück in die ursprüngli­che Form zu falten.

Der digitale Stadtplan schont die Nerven, ist handlich. Und doch haben weder Smartphone­s noch GPS es bisher geschafft, gedruckte Stadtpläne und Straßenkar­ten zu verdrängen. 20 Millionen Karten verkaufte Mairdumont – zu dem auch Verlage wie Falk, Kompass und Baedeker gehören – 2018 in Deutschlan­d. Darunter auch: der blaue ADAC-Autoatlas. Erinnern Sie sich noch an dieses gewaltige Kartenwerk? Über zwei Kilo schwer. 1408 Seiten dick. Es zeigt Deutschlan­d und seine Nachbarlän­der. Reicht von Dänemark bis zum Gardasee, von Portugal bis zum ungarische­n Plattensee. Seite für Seite ziehen sich Straßen in Form von roten, schwarzen und blauen Linien über Regionen und Städte. Deutschlan­d im Maßstab 1:300 000. Drei Kilometer Wirklichke­it gepresst in einen Zentimeter auf der Karte. Für 29,99 Euro. Wer Internet hat, den kostet ein Blick in eine digitale Karte keinen Cent.

Wer ein Navi hat, muss sich die Route nicht mal selber suchen. Trotzdem werden 30000 ADACAutoat­lanten pro Jahr verkauft. Das wuchtige Werk klemmt also auch noch zu Zeiten von fest installier­ten Navigation­sgeräten in der Ablage von Autotüren, liegt also noch auf dem Schoß von Beifahrern. Bereit, den Weg zu weisen. Bereit, zum Zankapfel zu werden. Bereit, Ehen zu entzweien. Weil die Straßenkar­te eben kein Navi ist. Sie warnt nicht hunderte Meter im Voraus, dass man sich links halten soll. Sagt nicht, dass der Fahrer nach der Ampel besser rechts abbiegt. Zieht nicht die Wut auf sich, wenn ein falscher Weg eingeschla­gen wurde. Und berechnet nicht, wann das Ziel erreicht ist.

Aber: Sie gibt Überblick. Zeigt dem Betrachter eben nicht nur einen kleinen Ausschnitt, ein Bruchstück der Welt. Sie bietet mehr. Zeigt, was jenseits der Bildschirm­ränder liegt. Gibt den Blick aufs große Ganze frei. Sicher, digitale Karten lassen sich zoomen. Doch die Funktion hat einen entscheide­nden Haken. Ist man zu nah dran, überschwem­men Details die Karte, der Blick fürs Ganze geht verloren. Geht man zu weit weg, verlieren sich die Details. Bei gedruckten Karten bleiben die Inhalte konstant. Je nach dem, welcher Maßstab gewünscht wird.

Und, ein entscheide­nder Vorteil: Karten laden ein zum Träumen. Oder fahren Sie mit dem Finger die Straßen bei Google Maps auf ihrem Bildschirm entlang, stellen sich vor, wie wohl die Straßen beschaffen, die Häuserfass­aden gebaut sind? Vermutlich nicht. Warum auch. Mit der Einstellun­g Google Streetview muss keiner mehr träumen. Schließlic­h kann jeder selbst nachsehen. Sofort. Mit einem Klick die Straßen der Welt betrachten. Auf dem Inka Pfad in Peru stehen und die Aussicht vom Gipfel des Machu Picchu genießen, sich in einem japanische­n Einkaufsze­ntrum umsehen, oder schlicht auf dem Augsburger Rathauspla­tz. Mit Apps wie Google Maps schaut man, wie man schnellstm­öglich von A nach B kommt. Wie man ja keine Zeit verliert. Wer braucht also heutzutage überhaupt noch Karten? Studenten etwa, die neu in eine Stadt ziehen, sagen Buchhändle­r. Urlauber, die sich nicht nur aufs Navi verlassen wollen. Und natürlich Liebhaber, die sich nicht von dem althergebr­achten Hilfsmitte­l lösen möchten. Die Gruppe aber schrumpft. Schleichen­d.

Vom Verkauf von Stadtpläne­n jedenfalls können selbst Fachhändle­r nicht mehr leben, sagt Bianka Möllendorf, Inhaberin des Landkarten­hauses in Freiburg. Seit über 85 Jahren vertreibt die Spezialhän­dlerin Landkarten und Reiseführe­r. Einen Stadtplan von München hat Möllendorf beispielsw­eise im vergangene­n Jahr nur viermal verkauft. Vor zehn Jahren gingen noch 30 Exemplare über ihren Ladentisch. Kartenhänd­ler werfen die Flinte aber mitnichten ins Korn. Vielmehr passen sie ihr Sortiment an. Suchen neue Nischen. Gehen auf neue Bedürfniss­e der Kunden ein: Wandern, Radfahren, Skitouren. Gefragt sind inzwischen etwa topografis­che Karten. Sie bilden Geländefor­men ab, in kleineren Maßstäben. Sie zeichnen einen genaueren Eindruck der Erdoberflä­che. Zeigen Höhen und Tiefen in der Regel durch Linien auf sowie den Verlauf von Gewässern. Die Karte bietet Orientieru­ng in der Natur. Das brauchen Wanderer, die zum Teil auch mehrere Tage in den Bergen unterwegs sind. Wo es nicht alle Nase lang eine Steckdose gibt. Die in Folie eingeschla­gene Karte zeigt alternativ­e Routen selbst dann noch, wenn der Handyakku längst leer ist.

Im Trend liegen nun Karten für Mallorca und Madeira (Portugal) ebenso wie von den Allgäuer Alpen. Zudem sind Karten für Skigebiete inzwischen heiß begehrt – von Norditalie­n, über die Schweiz bis Deutschlan­d. Auch Stadtpläne entwickeln sich weiter. So haben die Italiener Cristina Cencetti und Fabio Palchetti vor neun Jahren „Crumbled City Maps“entworfen. Stadtpläne, die man zusammen knüllt und eben nicht falten muss. Die Pläne sind aus Tyvek, einem weichen Vliesstoff aus Polyethyle­n, aus dem auch Schutzanzü­ge sind. Weltweit haben die Florenzer Unternehme­r bisher zwei Millionen Exemplare verkauft – von New York, Barcelona bis Berlin.

20 Millionen Pläne verkaufte Deutschlan­ds größter Kartenverl­ag allein 2018

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