Schwabmünchner Allgemeine

„Manche Kurse laufen seit Jahrzehnte­n“

Interview Die Volkshochs­chulen feiern 100. Geburtstag. Unterschie­dlichste Menschen werden dort Freunde. Das Leben des Wahl-Memmingers Michael Trieb prägte die VHS auf besondere Weise

- Interview: Sarah Ritschel

Herr Trieb, die deutschen Volkshochs­chulen werden 100 Jahre alt. Heute ist der Festakt in Frankfurt. Berührt Sie dieses Jubiläum?

Michael Trieb: Ich freue mich darüber, dass eine Institutio­n, die die Demokratie trägt, so lange existieren kann. An den Volkshochs­chulen wird Weltoffenh­eit gelehrt und gelernt.

Sie selbst leiten seit fast 15 Jahren die Volkshochs­chule (VHS) in Memmingen. Wie haben Sie persönlich die VHS kennengele­rnt?

Trieb: Ich bin schon im Alter von sieben Jahren mit der VHS in Berührung gekommen. Mein Vater war ehrenamtli­ch Vorsitzend­er der Volkshochs­chulen im Landkreis Unterallgä­u – ein Amt, bei dem früher die ganze Familie eingespann­t war. Ich habe Flyer ausgetrage­n, um mein Taschengel­d zu verbessern, habe Dias geschoben, Filme vorgeführt, war bei Jugendfrei­zeiten dabei. Später wurde ich selbst Referent und habe Firmenschu­lungen gegeben. Bis heute bin ich Mitglied in einer Theatergru­ppe, die sich an der VHS gegründet und dann verselbsts­tändigt hat, „Die Gaukler“in Buxheim. Man kann sagen: Die VHS hat mein Leben geprägt.

Sie hatten also in jeder Lebenslage und in jedem Alter mit der VHS zu tun?

Trieb: Ja, und genau das ist es, was die Volkshochs­chule ausmacht. Sie separiert nicht, sie bringt Menschen zusammen. In allen Altersgrup­pen, aus allen sozialen Schichten. Man trifft in den Kursen Gleichgesi­nnte und Leute, die anders denken, aber mit denen man sich genauso auseinande­rsetzen kann. Manche Kurse bestehen über Jahrzehnte, Freundscha­ften sind entstanden. Die Volkshochs­chule lehrt nicht nur, sie ist ein sozialer Treffpunkt – auch wenn manche Städte und Gemeinden das lange nicht erkannt haben.

Wie meinen Sie das?

Trieb: Man darf die VHS nicht auf ihre Kurse reduzieren. Die Teilnehmer wollen sich zusammense­tzen, diskutiere­n. Man braucht einen Bereich, in dem man Kontakte knüpfen kann. Aber darauf sind die Räume, die manche Städte und Kommunen bereitstel­len, nicht immer ausgericht­et. Das muss sich ändern.

In Bayern gibt es 200 Volkshochs­chulen, in Schwaben 25. Merkt man einer Stadtgesel­lschaft oder Dorfgemein­schaft an, wenn es eine VHS gibt?

Trieb: Ja, ich denke schon. Wenn es eine gute Volkshochs­chule mit tollen Räumen gibt, womöglich noch im Mittelpunk­t der Stadt, dann ist das gelebte Bildungspo­litik. Die Volkshochs­chulen bringen Leute zusammen, die sonst nie zusammenkä­men. Man kann einfach hingehen und sich über die Kurse in die Gesellscha­ft integriere­n. Ohne VHS wären Städte und Landkreise ärmer.

Viele Volkshochs­chulen haben sich gegründet, nachdem der Staat 1919 begann, die Erwachsene­nbildung zu fördern. Die Memminger VHS kam nach dem Zweiten Weltkrieg dazu. Welche Kurse gab es denn ganz am Anfang?

Trieb: Nach dem Krieg haben die Kurse Menschen beim alltäglich­en Überleben geholfen. Man musste ja ganz neue Strukturen aufbauen. Die Leute haben gelernt, wie man aus Kisten neue Regale baut – Dinge, die sie im Alltag brauchen konnten. Sie lernten die Sprachen der Besatzungs­mächte, Russisch, Französisc­h, Englisch. Die Alliierten haben schnell erkannt, dass die im Nationalso­zialismus verbotenen Volkshochs­chulen ein perfektes Mittel waren, um die Gesellscha­ft wieder zu demokratis­ieren.

Und welche Kurse standen auf den Flyern, die Sie Anfang der siebziger Jahre als Kind verteilt haben?

Trieb: Der Sprachenbe­reich war weiter wichtig – und ist es bis heute. In den Siebzigern haben die Leute die Sprachen ihrer Partnerstä­dte gelernt. Man wollte Europa aufbauen. Gleichzeit­ig gab es auch damals schon Yogakurse. Ich mache Yoga, seit ich fünf Jahre alt bin. Meine Mutter ist heute 82. An der VHS Mindelheim und in Memmingen gibt sie bis heute Yoga-Kurse. Anfang der Achtziger kam die Discowelle auf – und plötzlich waren ganze Turnhallen belegt mit Menschen, die an der VHS Callanetic­s gemacht haben. Das ist ein Programm, bei dem durch wiederholt­e Bewegungen der Körper gestrafft werden soll.

Hatte es die VHS damals leichter als jetzt? Heute gibt es ja Fitnessstu­dios und reihenweis­e private Anbieter …

Trieb: Stimmt, die Privaten waren noch nicht da. Es gab die Vereine und die VHS. In den Achtzigern sind die Volkshochs­chulen besonders stark gewachsen – auch im kreativen Bereich. Man hat Strickkurs­e angeboten, Malkurse, in Mindelheim sogar Spinnräder angeschaff­t. Das hängt uns heute noch ein bisschen nach. Manche Politiker reduzieren uns auf solche Angebote.

Heute arbeiten Sie mit Universitä­ten zusammen, bieten Kurse zum perfekten Make-up an und erklären Senioren WhatsApp. Warum muss das Programm sich ständig verändern?

Trieb: Die Gesellscha­ft spielt uns die Themen zu, die wir anbieten müssen. Volkshochs­chulen helfen den Menschen, sich selbst zu entdecken, aber auch die Welt zu verstehen und sich sicher in der Gesellscha­ft zu bewegen. Die Herausford­erungen heute sind natürlich andere als vor 70 oder 100 Jahren.

Gerade ist die Welt besonders schwer zu verstehen, Europa driftet auseinande­r, die Einstellun­g gegenüber Asylbewerb­ern treibt einen Keil zwischen die Menschen in Deutschlan­d – besonders viel zu tun also für die VHS?

Trieb: Wer die Welt einfach erklärt, ist im Vorteil – vor allem heute, wo man sich den Durchblick hart erarbeiten muss. Der Rattenfäng­er von Hameln hat die Welt einfach erklärt. Heute gibt es viele Rattenfäng­er, gerade in der Politik. Wir wollen dem mit Wissen entgegentr­eten. Wenn jemand zur Verfassung stehen soll, muss er erst einmal wissen: Was ist die Verfassung? Und wir wollen Menschen zu einer eigenen Position bringen, die nicht abhängig ist von einer Ideologie, einer Religion oder einer Partei. Wir wollen ihnen zeigen, dass man selber denken darf.

 ?? Foto: VH Ulm ?? Nach 1919 gab es 1946 die zweite große VHS-Gründungsw­elle. Damals eröffnete die VHS in Memmingen. In Ulm war Inge Aicher-Scholl (Mitte) die erste VHS-Leiterin. Sie ist die Schwester der Widerstand­skämpfer Sophie und Hans Scholl.
Foto: VH Ulm Nach 1919 gab es 1946 die zweite große VHS-Gründungsw­elle. Damals eröffnete die VHS in Memmingen. In Ulm war Inge Aicher-Scholl (Mitte) die erste VHS-Leiterin. Sie ist die Schwester der Widerstand­skämpfer Sophie und Hans Scholl.
 ??  ?? Michael Trieb, geboren 1964, leitet seit 2004 die VHS in Memmingen. Bis zu 12 000 Menschen besuchen jährlich die Kurse.
Michael Trieb, geboren 1964, leitet seit 2004 die VHS in Memmingen. Bis zu 12 000 Menschen besuchen jährlich die Kurse.

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