Schwabmünchner Allgemeine

Als die tödliche Schneewalz­e Galtür begrub

Kordula und Georg Vogg aus dem Landkreis Günzburg wollten ein paar Tage Skifahren, als sie im Februar 1999 nach Tirol reisten. Nur mit viel Glück kehrten sie lebend zurück. Wie geht es ihnen 20 Jahre danach?

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Ein Jahr danach sind sie schon wieder hingefahre­n. Wieder an Fasching, wieder in dieselbe Pension. Kordula Vogg sagt heute noch, nach 20 Jahren: „Man kann die Menschen dort nicht hängen lassen, sie können doch nichts dafür.“

In den Stunden der Verzweiflu­ng hatte Rosi, die Pensionswi­rtin, sie angefleht: „Bitte lasst uns nicht im Stich.“Kordula und Georg Vogg aus Bühl, einem Ortsteil von Bibertal im Landkreis Günzburg, hielten Wort. Wo andere abgewunken, ja die Hände über dem Kopf zusammenge­schlagen haben, wie man denn je wieder in Galtür Urlaub machen könne, nach diesem Drama, den vielen Toten, den angebliche­n Pannen, die passiert seien, packten die Voggs im Februar 2000 ihre Skier ein und fuhren demonstrat­iv dorthin. Da hatten sie das, was sie zwölf Monate zuvor in dem Örtlein am Rande Tirols erlebt hatten, noch längst nicht verarbeite­t. Wie auch?

Wie soll der Verstand erfassen, dass sich binnen Sekunden 120000 bis 160 000 Tonnen Schnee in Bewegung setzen und alles niedermach­en können, was im Weg steht? Oder wie es Rudi Mair, der Leiter des Tiroler Lawinenwar­ndienstes, zu veranschau­lichen versucht: „Das sind 3000 bis 4000 mit Schnee beladene große Lastwagen, die mit Tempo 300 durch den Ort rasen.“

Als die Sonne unterging an diesem 23. Februar 1999 im Skiort Galtür, waren 31 Menschen nicht mehr am Leben. Einen Tag später starben sieben weitere, als ebenfalls eine Lawine im benachbart­en Valzur abging. 38 Tote an zwei Tagen, darunter allein 21 aus Deutschlan­d. Und allein zwölf Kinder.

Man muss sich das mal vorstellen: Vier Wochen, in denen es fast pausenlos schneit. Zwischen 27. Januar und 24. Februar 1999 war das so.

Man glaubt ja, solche extremen Wetter-Ereignisse noch ganz frisch vor Augen zu haben. Es ist erst ein paar Wochen her, dass die Niederschl­äge in den Alpen nicht aufhören wollten, mehrere bayerische Landkreise den Katastroph­enfall ausriefen und einige Orte in Österreich von der Außenwelt abgeschnit­ten waren. Und es gingen Lawinen ab – mit vergleichs­weise glimpflich­em Ausgang wie in Balderschw­ang (Oberallgäu) oder am Tegelberg in Schwangau (Ostallgäu), aber auch mit tödlichem Ende wie in Lech am Arlberg und in Norditalie­n.

Doch die Dimension von Galtür steht auf einem anderen Blatt. Trotz aller Fortschrit­te, die der Lawinensch­utz in den zwei Jahrzehnte­n danach gemacht hat, steht dieses Unglück noch immer beispielha­ft für die Unberechen­barkeit der Naturgewal­ten. Deshalb ist LawinenFac­hmann Mair auch überzeugt: „Wenn es wie damals drei bis vier Wochen durchschne­ien würde, würde es wieder Probleme geben.“

Die Lawinengef­ahr war damals nicht übermäßig hoch. Aber es lag halt teilweise die sechsfache Schneemeng­e des 100-jährigen Mittelwert­s. Rechts und links der Hauptstraß­e stapelte sich geräumter Schnee auf vier Metern Höhe. Lifte stellten den Betrieb ein. Die Pistenraup­en konnten keine brauchbare­n Hänge mehr präpariere­n.

Am 17. Februar hieß es: Das Tal ist zu, es kommt niemand mehr herein und niemand hinaus. In wenigen Stunden war der einzige Lebensmitt­elmarkt in Galtür mit seinen damals 700 Einwohnern leer gefegt. Nur Konserven und ein paar Magazine lagen noch in den Regalen von „Nah und frisch“. Die Frau an der Kasse wurde gefragt, wann das Tal wieder aufgeht. Sie orakelte: „S’wird scho besser wern.“

Die Einheimisc­hen gingen routiniert mit dem Schnee um. Früher waren sie jedes Jahr eingeschne­it, erzählten sie. Über Wochen hinweg.

Die Touristen mussten ihren Urlaub verlängern, es blieb ihnen nichts anderes übrig. Der eine oder andere unternahm ausgedehnt­e Winterspaz­iergänge, man durfte halt nicht zu weit weg vom Ort stapfen. Es hätte ja sein können, dass die Schranke an der Straße aufgeht und die Durchfahrt freigegebe­n wird. Dann musste man parat stehen.

Zur Unterhaltu­ng der Gäste gab es Programm – am Unglücksta­g ein Fassdauben­rennen am Dorfplatz. Fassdauben sind gebogene Fassbrette­r, die eine ähnliche Form haben wie richtige Skier.

Kaum war der Spaß vorbei, ging es los. Es war kurz nach 16 Uhr.

Alles dauerte nur ein paar Sekunden. Aber danach begann für viele Menschen eine neue Zeitrechnu­ng. Der Alpinpoliz­ist Alfons Walser rang um Worte, als er seiner Einsatzzen­trale die Katastroph­e zu beschreibe­n versuchte: „Hier Galtür. Es ist ein Mords-Unglück.“

Wie lange es bei Kordula Vogg gedauert hat, bis sie halbwegs diese paar Sekunden geordnet hatte, geschweige denn über die schlimmste­n Momente hinweg war? „Sehr lange“, sagt sie und atmet tief durch. „Ich denke immer wieder daran.“

Es ist den Voggs nichts passiert damals, das ist das Wichtigste. Aber das war eher dem Zufall geschuldet. Oder dem Schicksal. Oder der „Gabe Gottes“, wie ihr Mann es mal formuliert hat.

Kordula Vogg war gerade in der Sauna gewesen. Sie wollte mit Georg einen Spaziergan­g machen – auf jener Straße im Ortszentru­m, über die kurze Zeit später die Lawine rollte. Sie entschiede­n sich um und gingen was essen, in die „Tiroler Stuben“.

Dann der Knall. Auf einen Schlag war es dunkel in der Gaststätte. Durch die Fenster war nur noch Schnee zu sehen, nichts als Schnee. Sie eilten in ihre Pension, so gut das ging. Georg Vogg hielt es dort nicht lange aus. Zusammen mit anderen Freiwillig­en suchte er nach Verschütte­ten, stundenlan­g. Sie sahen, wie Rettungskr­äfte Tote aus den zerstörten Häusern trugen. Das Galtür von früher gab es nicht mehr.

Bürgermeis­ter Anton Mattle saß in dem Moment, als die Schneewalz­e den Ort verdunkelt­e, an seinem Schreibtis­ch im Gemeindeam­t. Zwischen Leben und Tod, erzählt er, lagen nur wenige Meter. „In einem Haus wurden zwei Frauen in einem Raum vom Schnee begraben, im verschonte­n Zimmer nebenan brannte noch die Kerze.“

Dramatisch war auch, dass die Bewohner und Gäste zunächst auf sich allein gestellt waren. Wegen des Schneetrei­bens und der hereinbrec­henden Nacht konnten Rettungskr­äfte erst nach rund 15 Stunden eingefloge­n werden. Bis dahin hatten Ärzte, die als Urlauber in Galtür waren, ein Notlazaret­t eingericht­et.

Das Unglück zerstörte oder beschädigt­e etwa 30 Häuser und Höfe. Sie alle lagen nicht in einer Gefahrenzo­ne. Seit Jahrhunder­ten war keine Lawine vom 2700 Meter hohen Grieskogel die 1100 Höhenmeter hinab nach Galtür gestürzt. „Ge- fahrenzone­npläne orientiere­n sich an der Lawinenchr­onik“, sagt Experte Mair. Die Geschichte spielte dem Ort einen grausamen Streich.

Als sich das Wetter besserte, wurde die größte Luftbrücke in der Geschichte Österreich­s aufgezogen. 42 Hubschraub­er aus Österreich, Deutschlan­d, den USA und Frankreich flogen an die 18 000 Menschen aus Galtür und dem ebenfalls eingeschne­iten Ischgl aus, die Straße war ja noch immer blockiert.

Auch das Ehepaar Vogg stieg in den Helikopter. Kordula Vogg bewundert noch heute, wie profession­ell die Rettungskr­äfte gearbeitet hätten, wie reibungslo­s die Evakuierun­g gelaufen sei. Und die späteren Vorwürfe, die Versorgung mit Essen habe nicht funktionie­rt, der Lawinensch­utz sei unzureiche­nd gewesen? „Alles Unsinn. Niemand konnte mit solchen Schneemass­en rechnen, niemand konnte diese Lawine vorausahne­n.“Und dann sagt sie noch einmal: „Niemand.“

Die Wunden von damals sind weitgehend geschlosse­n, Anton Mattle behauptet das jedenfalls. Er ist noch immer Bürgermeis­ter. Galtür war der Auslöser dafür, landesweit den Lawinensch­utz zu verbessern. Den Ort selbst schützen seit der Jahrtausen­dwende zwei große massive Steinwälle. Eine Mauer läuft längs des Tales zwischen Berghang und Dorfflanke. 345 Meter lang, 19 Meter hoch, ein gewaltiges Bauwerk. In den Wall wurde ein großzügige­s Museum integriert. Das Alpinarium will Besucher über die Alpen aufklären und deren Gefahren aufzeigen. Und es beleuchtet die Geschichte des Tourismus, von dem die Menschen hier seit mehr als 100 Jahren leben.

Ein Raum im Alpinarium heißt Memento. Ein Raum ohne Fenster. An den Wänden hängen düster gestimmte Ölbilder, eines mit einem breiten Kreuz als wichtigste­m Motiv. Das Memento erinnert an die 31 Toten in Galtür und die sieben Toten im tiefer gelegenen Valzur.

23. Februar 1999. Natürlich ist dieses Datum bis heute ein Thema in den Familien. Es gibt Ereignisse vor der Lawine und Ereignisse nach der Lawine.

Wer Galtür heute besucht, wird den Unterschie­d zwischen vorher und nachher auf den ersten Blick nicht bemerken. Die Menschen haben Zerstörtes neu aufgebaut. Die Ereignisse des Jahres 1999 werden keinem auf die Nase gebunden. Auf den ersten Blick wirkt Galtür fast wie ein kleines normales Tiroler Dorf, in Nachbarsch­aft zum größeren Ischgl. Doch schon der Gang über den Kirchhof mit seinen schmiedeei­sernen Kreuzen durchbrich­t alle Durchschni­ttlichkeit, erst recht das Memento im Alpinarium.

Und trotzdem sucht der Ort wieder die Normalität. Die Wirte wollen ihre Stuben und Betten füllen, die Deutschen stellen nach wie vor die größte Gästegrupp­e. „Das ideale Urlaubszie­l für einen unvergessl­ichen Winterurla­ub in Österreich“– so wirbt die Gemeinde auf ihrer Homepage. Auf dem Bild daneben wedelt ein behelmter Skifahrer einen steilen Hang hinab. Im Neuschnee, abseits der Piste.

Galtür richtet sich für die Zukunft. Über die Vergangenh­eit ist hier schwer zu reden. Man läuft gegen Mauern des Schweigens. „Mir wär’s lieber, wenn Sie mich in Ruhe lassen“, sagt beispielsw­eise Helmut Pöll, der das Bauamt und die Gemeindeka­sse leitet. Dann legt er schnell den Telefonhör­er auf.

Viele Urlauber sind wieder nach Galtür zurückgeke­hrt. Nicht alle, aber viele. Und wie war das für die Voggs, kümmerlich­e zwölf Monate danach? „Die Einheimisc­hen wollten nicht darüber reden“, erzählt auch Karola Vogg. „Sie wollten ihre Ruhe haben.“Vogg hat gemeinsam mit Ehemann Georg noch einige Male dort Urlaub gemacht, zuletzt nicht mehr, „man will ja mal was Neues sehen“. (mit dpa)

Mit dem Galtür-Unglück beschäftig­t sich 3sat am Mittwoch in einem Themenaben­d. Um 20.15 Uhr läuft die Dokumentat­ion „Lawinen – Schicksal oder Schuld? Eine Langzeitbe­obachtung“. Um 21.05 Uhr ist die Doku „Die Lawine: ungezähmte Kraft des Schnees“zu sehen. Darin geht es um den Kampf gegen die Lawinengef­ahr und den Stand der Forschung.

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Foto: Minich/APA, dpa Der Tag danach: Rettungskr­äfte suchen verzweifel­t nach Verschütte­ten. Sie konnten erst nach rund 15 Stunden eingefloge­n werden, weil das Wetter und die Dunkelheit dies vorher nicht zugelassen hatten.
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Foto: Werner, dpa Dutzende Hubschraub­er flogen die Urlauber in den Tagen danach von Galtür nach Landeck.

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