Angriff bleibt Putins liebste Form der Verteidigung
Der Präsident hält seine Rede an die Nation. Entgegen aller internationaler Kraftmeierei plagen ihn vor allem innenpolitische Sorgen
Moskau Nach knapp einer Stunde widmet sich Wladimir Putin doch noch kurz dem Thema, das bereits vor Jahren ins Zentrum russischer Außenpolitik gerückt ist: Sein Land sieht er von allen Seiten bedroht, sein Land will er verteidigen. Und sei es mit Überschallraketen. Vor allem die USA verhielten sich unehrlich, konstatierte Putin in seiner 15. Rede an die Nation am Mittwoch – der ersten, seit erst Washington und dann auch Moskau den Inf-abrüstungsvertrag aufgekündigt hat.
Amerikas „Satellitenstaaten grunzen ihnen auch noch etwas vor. Selbst brechen die Amerikaner alles, und dann beschuldigen sie natürlich uns“, setzt er an und nimmt Bezug auf den Ausstieg der USA aus dem Inf-abrüstungsvertrag, der den Besitz landgestützter atomarer Mittelstreckenwaffen mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern untersagt. „Die Verschärfung der Lage liegt nicht in unserem Sinne“, sagt Putin vor mehr als 1000 Würdenträgern aus Politik, Wirtschaft, Religion. Aber: Washington solle sich gut genug die Schnelligkeit und die Reichweiten russischer Waffensysteme ansehen, ehe es über neue Rüstungsschritte entscheide, die Moskau als Bedrohung auffassen müsse. „Die Antwort unseres Landes wird immer wirksam und effektiv sein“, sagte er. Amerika pflege in Sicherheitsfragen eine zerstörerische, fehlerhafte Haltung. „Das führt zu einer ernsten Bedrohung für Russland“, sagt er und betont: „Wir werden uns wehren.“Mit seinen Raketen werde Russland dabei nicht nur mögliche Stationierungspunkte – in Polen oder Rumänien etwa – ins Visier nehmen, sondern auch die Zentralen jener Länder, in denen die Entscheidungen getroffen würden. Bereits in diesem Frühjahr, so der 66-Jährige, werde Moskau das erste Atom-u-boot mit dem unbemannten Waffensystem „Poseidon“ zu Wasser lassen. „Wir brauchen Frieden.“
Mit der großen Rede an die Nation – so steht es in der russischen Verfassung – wendet sich der Präsident einmal im Jahr an die beiden Kammern des russischen Parlaments und legt Rechenschaft über sein politisches Handeln ab. Die Rede, die die Russen schlicht „Botschaft“nennen, nutzt Putin dieses Mal vor allem, um „den Menschen in den Vordergrund“zu stellen, wie er sagt. Die Zustimmungswerte für den Präsidenten waren in den vergangenen Monaten immer weiter gefallen. Die Erhöhung des Rentenalters und auch der Mehrwertsteuer, die sinkenden Einkommen passen nicht ins Bild, das das staatlich gelenkte Fernsehen den Menschen täglich liefert. Der Unmut der Menschen wächst, wie auch ihre Ohnmacht. Dem begegnet Putin mit seiner eigenen Logik. „Wir haben kolossale finanzielle Ressourcen, wir haben eine Masse konkreter Aufgaben. Wir werden nicht auf die helle Zukunft warten, wie es der Kommunismus prophezeit hatte. Wir müssen jetzt ran.“
Bevor er rund 20 Minuten lang die USA abkanzelt, malt er ein dynamisches Bild in Russlands Wirtschaftsund Sozialpolitik. Er verspricht höhere Renten, höheres Kindergeld, effektivere Medizin, geringere Steuern, mehr Rechtssicherheit und ein besseres Investitionsklima. Familien sollen Direkthilfen erhalten, für Landärzte und Dorfschullehrer sollen Zusatzangebote winken. „Wir haben dieses Geld“, sagt er. Woher, sagt er nicht. Er will gegen Armut ankämpfen, das Müllentsorgungsproblem im Land lösen, die Infrastruktur verbessern lassen und mehr in künstliche Intelligenz investieren. All das tun, was bereits in den sogenannten „Nationalen Projekten“von 2018 verzeichnet ist. „Wir werden bestimmt erfolgreich sein“, sagt er. Der Satz klingt nach jener hellen Zukunft, wie sie im Kommunismus gepredigt worden war. Klar wird aber auch bei dieser Rede, dass er nur sich selbst zutraut, die Probleme des Landes zu lösen. Doch dass Putin 2024 tatsächlich auszieht aus dem Kreml, weil dann die laut Verfassung letzte Amtszeit endet, sieht der Großteil der Elite bisher ohnehin nicht. „Die große politische Maschine Putins nimmt gerade erst an Fahrt auf, sie ist auf eine lange, schwere und interessante Arbeit eingestellt“, meinte erst kürzlich Wladislaw Surkow, einer der führenden Ideologen im Kreml. Ihre volle Leistung werde sie erst noch erreichen.