Schwabmünchner Allgemeine

Der schöne Schein der Scheine

Theater Ulm In Georg Kaisers „Von morgens bis mitternach­ts“sucht ein kleiner Mann das große Leben. Klappt aber nicht

- VON MARCUS GOLLING

Ulm Der Kunde keucht, der Portier schnieft, der Laufbursch­e seufzt, die Damenschuh­e klappern, das Kleingeld klimpert. Georg Kaisers „Von morgens bis mitternach­ts“beginnt im Theater Ulm ohne Worte, als Stummfilm, garniert mit Geräuschen. Der Bühnenvorh­ang gleicht einem riesigen Holzschnit­t, die Darsteller sind weiß geschminkt und glotzen mit großen Augen. Die Bank, der Ort, an dem der Fall des namenlosen Kassierers seinen Anfang nimmt, gleicht der Szenerie in Charlie Chaplins „Modern Times“: die Welt ein riesiger Apparat, der einzelne Mensch nur ein Zahnrad.

Mit Slapstick und Pantomime beginnt Jasper Brandis’ Inszenieru­ng des 1917 uraufgefüh­rten Stationend­ramas. Schon seit Jahren trug der Regisseur das Stück mit sich herum; nun als Schauspiel­direktor in Ulm konnte er seinen Plan zusammen mit Ausstatter Andreas Freichels endlich in die Tat umsetzen. Damit hat in dieser Saison nach Augsburg („Gas“) auch Ulm einen Georg Kaiser (1878-1945) im Programm, ein Frühwerk. Was bemerkensw­ert ist, weil der produktive und zu Lebzeiten enorm erfolgreic­he Expression­ist nur noch selten gespielt wird. Was auch an der etwas kantigen und pathetisch­en Sprache liegt.

„Von morgens bis mitternach­ts“macht es dem Zuschauer auch sonst nicht leicht. Der Protagonis­t durchlebt keine richtige Entwicklun­g, er wandelt von Bild zu Bild, immer auf der Suche nach dem Glück, welches das Geld verheißt. Das pessimisti­sche Stück erzählt, wie der Kassierer, bis dahin ein tadelloser Spießer, durch die flüchtige Begegnung mit einer verrucht-schönen Frau zum Kriminelle­n wird. Er unterschlä­gt morgens 60000 Mark des Bauvereins, und als sich der Traum eines Ganovenleb­ens an der Seite der unbekannte­n Dame als Hirngespin­st herausstel­lt, will er die Beute anderweiti­g Der Kassierer (Fabian Gröver, Mitte) will sich sein Glück kaufen. Foto: Jochen Klenk loswerden: beim Sechstager­ennen, im Ballsaal – und am Schluss in einer Kirche. Um Mitternach­t nimmt die Suche das erwartbare Ende, nach seltsamen Begegnunge­n und etlichen, immer wieder um Geld und Existenz kreisenden Monologen des Kassierers.

Regisseur Brandis greift in den Text kaum ein. Aber nutzt die Mittel von Groteske und Humor, um die expression­istische Schwere herauszune­hmen. Der Inspizient spielt in einer Szene den Wind, die Familie des Kassierers erscheint in einem Horror-Video, die Herren im Sportpalas­t sehen mit Hüten und langen Bärten aus wie Mitglieder von ZZ Top. „Von morgens bis mitternach­ts“wird in Ulm durch viele Details lebendig – entfaltet seine Qualität allerdings erst nach der (sehr früh gesetzten) Pause. Dann fährt die Drehbühne nach vorne – und auf ihr ein mächtiges Holzgerüst, das gleichzeit­ig als Sporttribü­ne, Luxus-Nachtklub und Sektenzent­rale dient. Weg vom Holzschnit­t, hinein in die Tiefe der Gesellscha­ft, deren Verheißung­en sich für den kleinen Kassierer allerdings als Trugbilder erweisen.

Das Ensemble beweist von Anfang an Spielfreud­e, präzise Körperarbe­it und Wandlungsf­ähigkeit. Fabian Gröver, für den es die letzte Rolle in Ulm ist, lässt den gehemmten Kassierer den Zyniker in sich erkennen; alle anderen Darsteller übernehmen mehrere kleine Rollen. Ulms „Von morgens bis mitternach­ts“ist ein Stück, dessen bitteres Ende einen frösteln lässt, starkes Schauspiel­ertheater mit gewitzten Regieeinfä­llen. Das Premierenp­ublikum jedoch applaudier­t nur verhalten.

OTermine Wieder am 30. Mai. Weitere Vorstellun­gen bis Mitte Juli.

BERLIN SCHERT AUS

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