Der Rede wert
EU Am Tag, als es für Ursula von der Leyen um alles geht, setzt sie zu ihrer letzten Bewerbungsrede an. Die CDU-Politikerin wählt große Worte, macht aber auch große Versprechungen. Gut möglich, dass sie am Ende den Ausschlag geben. Doch einige Parlamentar
Straßburg Ursula von der Leyen weiß, dass an diesem Dienstagmorgen nichts mehr schiefgehen darf. Es ist diese Rede, bei der alles stimmen muss. Obwohl es eigentlich unmöglich ist, die völlig unterschiedlichen und sich widersprechenden Erwartungen der 747 Zuhörer im großen Rund des Europäischen Parlaments zusammenzuführen. Was die Grünen fordern, lehnen die Christdemokraten ab. Was die Liberalen an Marktfreiheit preisen, ist mit den Sozialdemokraten nicht zu machen. Und doch braucht von der Leyen alle – oder zumindest die Mehrheit der Abgeordneten aus 190 Parteien in den 28 Mitgliedsstaaten.
Was in den rund 30 Minuten nach der in Französisch vorgetragenen Begrüßung folgt, ist nicht nur eine große Rede, sondern ein rhetorischer Höhepunkt, eine Mischung aus Persönlichem und jener „Vision von Europa“, die so viele der zurückliegenden Bewerbungsreden vermissen ließen.
Sind es diese 30 Minuten, die das wochenlange Drama um die künftige Führung der EU-Kommission entscheiden? Die wenigstens so viele der Zaudernden und Schimpfenden unter den Parlamentariern doch noch dazu bringen, ihre Stimme der bisherigen Bundesverteidigungsministerin zu geben, dass es am Ende denkbar knapp reicht?
Es ist 19.34 Uhr an diesem Dienstagabend – und ein historischer Moment. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union bekommt deren wichtigste Behörde eine Frau als Chefin. Das EU-Parlament hat die 60-jährige CDU-Politikerin Ursula von der Leyen zur neuen Kommissionspräsidentin gewählt – mit nur 383 Stimmen, neun Jastimmen mehr, als sie brauchte (327 Gegenstimmen, 23 Enthaltungen, eine ungültig).
Sie gewinnt gegen die Stimmen der 16 deutschen SPD-Abgeordneten. Gegen das Votum der europäischen Grünen. Und auch gegen die rechten Kräfte aus Italien, Frankreich, den Niederlanden und der AfD. Ursula von der Leyen sagt am späten Abend dazu: „In der Demokratie ist eine Mehrheit eine Mehrheit.“Und sie sei sehr froh. „Man darf ja nicht vergessen, dass ich gerade mal zwei Wochen Zeit hatte, um politische Leitlinien zu entwickeln. Viele kannten mich nicht einmal.“Das stimmt zwar, ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere lautet: Dieser Tag reißt neuerliche tiefe Gräben.
1958 übernahm Walter Hallstein als erster deutscher Politiker die Leitung der Europäischen Kommission. 51 Jahre später wird ihm also Ursula von der Leyen folgen. Sie wird am 1. November ihren aktuellen Vorgänger Jean-Claude Juncker ablösen – vorausgesetzt, sie hat bis dahin eine neue Kommission gebildet und auch für diese eine Mehrheit in der Straßburger Abgeordnetenkammer erhalten. Denn das wird sehr schwierig.
Gerade nach diesem Dienstag ist die Lust der europäischen Volksvertretung groß, sich an einigen Staatsund Regierungschefs für den Vonder-Leyen-Coup zu rächen. Zur Erinnerung: Nachdem sich weder das Parlament noch die Staatenlenker auf einen der drei Spitzenkandidaten hatten einigen können, ließen sie alle fallen und folgten dem Vorschlag des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und des spanischen Premierministers Pedro Sánchez, die sich für von der Leyen ausgesprochen hatten. Der Ärger im Kreis der Volksvertreter, die sich noch am Tag nach der Europawahl dafür ausgesprochen hatten, nur einen Spitzenkandidaten zu nominieren, war groß.
Dass nun die neuen Kommissarsanwärter, die von den Regierungen eigenständig benannt werden, im Parlament aber mehrstündige Anhörungen überstehen müssen, richtig „gegrillt“werden, darf man wohl glauben. Da das EU-Parlament eine Kommission lediglich als Ganzes ablehnen oder akzeptieren kann, könnte von der Leyen noch eine lange Wartezeit bevorstehen.
Tatsächlich ist der politische Flurschaden groß. Das zeigt auch dieser Dienstag. Kurz nach neun in der Früh bekommt von der Leyen ihre letzte Chance, die Mehrheit der Abgeordneten von sich zu überzeugen. „Es ist genau 40 Jahre her, dass die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments, Simone Veil, gewählt wurde“, beginnt sie ihre Rede. Dies ist die Tradition, in die sie sich stellt. Solche Worte, hier in Straßburg, wo Simone Veil, die französische Holocaust-Überlebende, immer noch als Ikone der Verdeutschen und der europäischen Einigung gilt – dies ist kein Auftakt, sondern ein Aufschlag nach Maß.
Dann erzählt sie von zu Hause, von Vater Ernst Albrecht, der 1958 Kabinettschef bei dem damaligen deutschen EU-Kommissar Hans von der Groeben war. Sie beschreibt ihren Werdegang als Mutter von sieben Kindern, als Ehefrau, als Ärztin, als Politikerin. Vor allem aber als Frau. „Seit 1958 gab es 183 Kommissare“, sagt sie. „Aber nur 35 Frauen waren darunter. Wir repräsentieren die Hälfte der Bevölkerung. Wir wollen auch die Hälfte der Verantwortung.“Ihr Programm: Die nächste Kommission, die erste unter Leitung einer Frau, soll zur Hälfte mit Politikerinnen besetzt werden. Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle „starken Applaus“.
Von der Leyen eiert nicht herum. In Richtung der Grünen verspricht sie, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Den Sozialdemokraten sagt sie zu, die europäische Arbeitslosenversicherung einzuführen, die Armut zu bekämpfen und den Jugendlichen ohne Job eine Beschäftigungsgarantie zu geben. Und natürlich den Mindestlohn einzuführen. Dabei spüren die Abgeordneten, wie weit sich die Bewerberin aus dem Fenster lehnt. Denn diese Projekte wollte bisher nicht mal ihre eigene christdemokratische Parteienfamilie mittragen. Und so geht es weiter. Die Seenotrettung auf dem Mittelmeer will sie wieder aufnehmen. „Unsere Werte sind klar“, betont sie. „Ich will einen neuen Asylpakt.“Und dann erzählt sie von dem neunjährigen syrischen Jungen, den ihre Familie aufgenommen hat, als er weder Deutsch noch Englisch sprechen konnte. Heute, vier Jahre später, beherrsche er neben Arabisch beide Sprachen fließend. „Eines Tages will er heimkehren“, sagt sie dann. Das Beispiel könne Europa „als Inspiration“dienen.
Je länger ihre temperamentvolle, engagiert vorgetragene Rede dauert, desto mehr Baustellen dieser Union räumt sie ab. Darunter auch das Thema Demokratie. Bei der Rechtsstaatlichkeit will sie keine Freiräume zulassen. Als wohltuend empfinden viele die klaren Worte zur Rechtsgemeinschaft. Hier hat es in den vergangenen Tagen immer wieder Zweifel gegeben, wie hart von der Leyen die Linie der bisherigen Kommission gegen Rechtsstaatssünder wie Ungarn und Polen fortsetzen würde. Es könne hier „keine Kompromisse geben“, sagt sie. Sie werde den ganzen Werksöhnung zeugkasten weiter anwenden und zusätzlich einen neuen Rechtsstaatsmechanismus vorschlagen. Eine Idee, die sie von CSU-Spitzenkandidat Manfred Weber übernommen hat. Und für alle, denen diese Perspektiven für eine Amtszeit einer Von-der-Leyen-Kommission nicht reichen, hat sie ein umfangreiches Arbeitsprogramm zusammengeschrieben und den Parlamentariern auf ihre Schreibtische legen lassen.
Doch es gibt noch eine andere Ebene dieses Auftritts. Eine, die die Rede zu mehr als nur einer Ansprache macht. Von der Leyen zielt auf den Wirrwarr in diesem Parlament, dieses Durcheinander, das nach den Wahlen je nach Parteifarbe aus Siegestrunkenheit, Betroffenheit und Schockstarre entstanden ist. Koalitionen wie früher funktionieren nicht mehr, gesucht sind fraktionsübergreifende Mehrheiten.
Die neue Präsidentin will die „proeuropäischen“Kräfte um sich scharen. Was diejenigen, die nicht für sie sind, ausgrenzt. Die Chefin der Grünen-Fraktion, Ska Keller, bekommt das als Erste zu spüren. „Super“nennt sie die Rede. Trotzdem bezeichnet die Grüne von der Leyen kurz darauf als „nicht wählbar“. Wie passt das zusammen?
Während sich Liberale, Teile der polnischen Regierungspartei PiS, die zur Fraktion der Konservativen und Reformer gehört, sowie weitere um die Kandidatin von der Leyen scharen, stehen nicht nur die Grünen plötzlich auf der anderen Seite, sondern auch die deutschen Sozialdemokraten. „Ich komme nicht umhin anzuerkennen, dass unsere Punkte von Frau von der Leyen aufgegriffen wurden“, windet sich der Chef der 16 deutschen SPD-Abgeordneten, Jens Geier. Nur um dann doch zu betonen, dass seine Parteifreunde die Bewerberin trotzdem nicht wählen werden. Und damit steht die deutsche SPD mit den Grünen und den Rechtsextremen in einer Linie gegen von der Leyen.
Die Spuren dieses Konflikts sind enorm tief. Die Wahl von Ursula von der Leyen hat sie mitnichten verwischt.
Ursula von der Leyen droht eine lange Wartezeit Die einstigen Koalitionen funktionieren nicht mehr