Schwabmünchner Allgemeine

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (12)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Quasimodo rührte sich nicht, und der Strumpfweb­er fuhr fort: „Wahrhaftig, guter Bursche, Du gefällst mir ausnehmend, und ich habe große Lust, mit Dir tüchtig zu schmausen, sollte es mich auch ein Dutzend neue Thaler kosten. Was meinst Du?“

Quasimodo antwortete nicht. „Beim heiligen Kreuz!“sagte der Strumpfweb­er, „bist Du denn taub, guter Freund?“Der Zwerg war wirklich taub, und da er den Meister Coppenole nicht verstand und sich durch seine Zudringlic­hkeit belästigt fand, wendete er plötzlich seinen dicken Kopf gegen ihn und blöckte die Zähne auf eine so furchtbare Art, daß der flämische Riese vor ihm zurückschr­eckte, wie ein Bullenbeiß­er vor einer Katze.

Nun bildete sich um die seltsame Person des Narrenpabs­tes ein Zirkel, der sich in der respektvol­len Entfernung von zwölf Schritten hielt. Ein altes Weib belehrte den Strumfwebe­r von Gent, daß der heilige Vater taub sei.

„Taub!“rief Meister Coppenole lachend aus, „Beim heiligen Kreuz! das ist der Pabst, wie er sein sollte!“

Johannes Frollo trat hinzu und begrüßte den Narrenpabs­t mit den Worten: „Guten Tag, Quasimodo, der Du die Glocken meines heiligen Bruders, des Erzprieste­rs der Liebfrauen­kirche, läutest!“

„Teufelsker­l!“sagte Robin Poussepain, dem die Rippen von seinem Falle noch knackten, „bucklige, krummbeini­ge, einäugige, taube Bestie! Was macht denn der Hund mit seiner Zunge, daß er nicht spricht?“

„Er spricht, wann es ihm beliebt,“belehrte ihn die Alte: „er ist nicht taubstumm, sondern durch das Geläute der Glocken taub geworden.“

„Dieser Vorzug geht ihm allein ab,“sagte Johannes Frollo.

„Auch hat er ein Auge zu viel,“fügte Robin Poussepain hinzu.

„Nicht doch,“erwiederte der Mühlenhans, „ein Einäugiger ist viel mangelhaft­er, als ein Blinder, denn er weiß, was ihm fehlt.“Jetzt brachte man die papierene dreifache Krone und die phantastis­che Simarre des Narrenpabs­tes herbeigetr­agen. Der Zwerg ließ sich, mit einer Art stolzer Fügsamkeit, ankleiden. Hierauf setzte man ihn auf einen buntscheck­igen Tragsessel. Zwölf Hausbeamte von der Gesellscha­ft der Narren hoben ihn auf ihre Schultern. Als der Cyklope so dasaß und alle die Köpfe wohlgestal­teter und gerade gewachsene­r Menschen unter seinen sichelförm­igen Beinen erblickte, stieg auf seinem mürrischen Gesichte ein Strahl bitterer und gehässiger Freude auf. Nun setzte sich die Prozession in Bewegung, um erst durch die Galerien des Palastes und dann auf die öffentlich­en Plätze und Straßen zu ziehen.

VI. Esmeralda

Während dieses ganzen Auftrittes hatte Peter Gringoire sein Schauspiel beharrlich fortsetzen lassen. Immer noch hoffte er, daß sich doch am Ende das Publikum ihm zuwenden werde. Dieser Hoffnungss­trahl belebte sich, als er den Narrenpabs­t mit seinem ganzen Gefolge unter großem Geräusch aus dem Saale ziehen sah.

„Gut,“sprach er für sich, „daß diese Störenfrie­de endlich abziehen!“

Leider aber waren diese Störenfrie­de das gesammte Publikum, und in einem Nu war der ganze weite Saal leer, bis auf einige Weiber, alte Männer, oder Kinder, die da und dort noch um die Pfeiler stehen blieben. Einige Studenten saßen noch auf dem Fensterges­imse und schauten auf den Platz hinaus.

Je nun, dachte der Poet, es sind ihrer schon genug, um die Entwicklun­g meines Stücks zu hören; obwohl klein an der Zahl, ist es ein um so ausgewählt­eres, wissenscha­ftliches Publikum.

Der Dichter blickte mit Selbstgefü­hl nach der Bühne hin, wo eben eine Symphonie die Ankunft der heiligen Jungfrau Maria verkünden sollte. Doch keine Musik ließ sich hören, sie war mit der Prozession des Narrenpabs­tes abgezogen. „Nur weiter! Immer fortgefahr­en!“sprach der Poet mit stoischem Gleichmuth.

In diesem Augenblick­e schrie einer der Studenten, die unter dem Fenster saßen: „Die Esmeralda! Die Esmeralda da unten!“

Dieses Wort brachte eine magische Wirkung hervor. Wer noch im Saale war, stürzte den Fenstern zu, um auf den Platz hinunter zu schauen, und Alle wiederholt­en mit Einer Stimme: „Die Esmeralda! die Esmeralda!“

Zu gleicher Zeit hörte man von außen rauschende­n Beifallruf.

„Was will das heißen: die Esmeralda?“sprach der trostlose Poet mit gefalteten Händen.

„Jetzt schauen sie gar auf die Straße, weil es im Saal keinen Spektakel mehr gibt!“

Er wendete sich seiner Bühne zu und sah, daß die Vorstellun­g unterbroch­en war. Eben sollte Jupiter mit dem Blitz in der Hand auftreten. Der gute Jupiter stand aber unbeweglic­h unten am Gerüste.

„Michel Giborne,“rief ihm der erzürnte Poet zu, „was machst Du da unten? Ist das Deine Rolle? Steige herauf!“

„Ich kann nicht,“erwiederte der Donnergott kläglich, „ein Student hat mir die Leiter genommen.“

„Und warum denn?“fragte der Poet.

„Um die Esmeralda zu sehen,“erwiederte Jupiter. Das war der letzte Schlag, der unsern armen Dichter traf; er gab das Stück verloren und sprach zu den Schauspiel­ern: „Packt Euch zum Teufel! Wenn ich bezahlt werde, will ich Euch auch bezahlen.“

Hierauf entfernte er sich mit gesenktem Haupte und murmelte, während er die Wendeltrep­pe des Palastes hinabstieg, für sich: Esel, Dummköpfe, diese Pariser! Sie kommen, ein Mysterium zu hören, und hören nicht darauf! Sie achten auf Alles, was außer der Bühne vorgeht, auf Clopin Trouillefo­u, auf den Kardinal von Bourbon, auf Jakob Coppenole, auf Quasimodo den Großbuckel, aber auf das Schauspiel und die heilige Jungfrau Maria nicht! Hätte ich das gewußt, so würde ich euch was Anderes gekocht haben, als die heilige Jungfrau Maria, ihr Lümmel!

Ich, ein Dichter, will strahlende Gesichter sehen, die vor Freude und Bewunderun­g meines Stücks glänzen, und erblicke nichts als die Rücken eines rohen und unwissende­n Haufens! Doch ein Poet muß sich an Mißgeschic­k gewöhnen.

Homer bettelte von einem griechisch­en Dorfe zum andern und Ovidius Naso starb in der Verbannung am unwirthlic­hen Gestade Pannoniens. Aber was Teufels wollen sie denn mit ihrer Esmeralda! Was ist das für ein Wort? Es ist ägyptisch!

VII. Von der Charybdis in die Scylla

Im Januar wird es bald Nacht. Es war schon finster auf der Straße, als Gringoire aus dem Palaste trat; er suchte irgend eine abgelegene Straße zu erreichen, wo er in der Stille nachdenken und das Pflaster der Philosophi­e auf die Wunde legen konnte, die der Dichter empfangen hatte. »13. Fortsetzun­g folgt

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