Der Kälbchen-Flüsterer
Prozess Ein tierisches Erlebnis in einer kalten Märznacht bringt einen heimkehrenden Zecher vor Gericht
Augsburg Es gibt Pferdeflüsterer, die jeden wilden Hengst zähmen. Und Hundeflüsterer, die einen ungehobelten Vierbeiner zum lammfrommen Freund erziehen. Aber einen Kälbchen-Flüsterer? Ja, so einen scheint es zu geben, wie ein seltsam skurriler Fall offenbart, der jetzt vor Amtsrichterin Susanne Scheiwiller verhandelt wurde.
Eine kalte Märznacht 2018 in einem Dorf im Landkreis Augsburg: Ein 39-Jähriger macht sich nach dem Besuch eines Festes mit 1,4 Promille im Blut zu Fuß auf den Heimweg. Er kommt am Hof eines Bauern vorbei. Im Hofraum stehen mehrere Gitterboxen mit Kälbern. Ein ganz kleines Kälbchen in einer der Boxen weckt die Neugierde des Zechers. Er hat irgendwie Mitleid mit dem Tier, berührt es vorsichtig, öffnet schließlich die Tür, um wie er später sagt, „es besser streicheln zu können“. Dann geht er weiter, verschließt die Box aber nicht wieder. Die Folge: Das kleine Kälbchen, offenbar animiert von der menschlichen Wärme, trottet ihm hinterher. Der Versuch, es zurückzuscheuchen, so behauptet der 39-Jährige, misslingt.
In der kalten Nacht tapst das kleine Kälbchen nun wie ein treuer Hund über eine Strecke von zwei Kilometern neben dem Zecher her, weicht ihm nicht von der Seite. Eine Polizeistreife wird zufällig Zeuge der kuriosen Szene. „Gehört das Kalb ihnen?“fragt ein Beamter. „Nein“, antwortet der 39-Jährige. „Es ist mir hinterhergelaufen“. Angesichts von Uhrzeit und Witterung bittet die Streife den Mann, das Kalb zunächst zu sich nach Hause zu nehmen, bis die Besitzverhältnisse geklärt sind. Der 39-Jährige macht dem Kälbchen in seinem Keller mit Decken ein Lager, gibt ihm zu trinken. Die Polizei hat den Besitzer des Kalbes schnell ausfindig gemacht, er holt es kurz darauf ab. Bei einer kurzen Vernehmung sagt der alkoholisierte Zecher, er habe das Kalb „mitgenommen“. Ein Geständnis also? Im Polizeiprotokoll steht hinterher, warum auch immer, der juristische Begriff „entwendet“, den eigentlich nur Polizei und Justiz gebrauchen. Dies hat zur Folge, dass dem Kälbchen-Flüsterer ein Strafbefehl wegen Diebstahls über 6000 Euro (120 Tagessätze zu je 50 Euro) ins Haus flattert, wogegen er über seinen Anwalt Ernst Lauffer Einspruch einlegt, sodass es zum öffentlichen Prozess kommt.
Der Angeklagte beteuert: „Ich wollte das Kalb nicht klauen. Was hätte ich denn mit ihm anfangen sollen?“Es sei halt neben ihm hergelaufen wie ein braver Hund. Der Bauer, dem das Kälbchen (Wert: 600 Euro) gehört, kann sich die geschilderte Szene nicht vorstellen. „Wenn ich ein Kalb von A nach B bringen will, brauche ich einen Strick“, sagt er. Der tierische Prozess findet für den Angeklagten ein gutes Ende. Auf Antrag von Staatsanwalt Markus Eberhard und Verteidiger Ernst Lauffer spricht Richterin Scheiwiller den „KälbchenFlüsterer“auf Kosten der Staatskasse frei. „Es ist ihm keine Zueignungsabsicht nachzuweisen. Und das ist Voraussetzung für einen Diebstahl“, klärt das Gericht auf.
Es lief brav neben ihm her wie ein treuer Hund