Im Bann von Scheherazade
Sinfoniekonzert Muss es bei Rimski-Korsakow immer sein Dauerbrenner sein? Gute Gründe sprechen dagegen – andere jedoch dafür, wie das Saisonfinale der Philharmoniker zeigte
Der klassische Konzertbetrieb ist ein Lindwurm. Er bewegt sich gar nicht gerne, verharrt lieber in der einmal eingenommenen Position – mit der Folge, dass das weniger Bekannte es nicht leicht hat, sich Platz zu verschaffen. Rimski-Korsakow zum Beispiel: Der russische Komponist hat im sinfonischen Genre einiges zu Papier gebracht, und gerade von diesem Meister der Orchestrierkunst würde man gerne auch live ein umfassenderes Bild gewinnen. Ins Programm genommen aber wird fast immer nur seine „Scheherazade“. Wenngleich der Griff zu diesem Orchester-Sahnestück auch wieder verständlich ist: Wenn das Konzertprogramm wie jetzt beim Saisonfinale der Augsburger Philharmoniker ein ausgewachsenes Stück avancierter Zeitgenossenschaft enthält, ist die Neigung groß, dem Publikum ein Zuckerl in Gestalt eines sinfonischen Dauerbrenners nicht zu verwehren.
Immerhin, die Philharmoniker sind in ihrem 8. Sinfoniekonzert im Kongress am Park nicht der Versuchung erlegen, das den Abend einleitende Stück ebenfalls nach dem Beliebtheitsgrad auszuwählen, sonst hätte von Sibelius vermutlich „Finlandia“erklingen müssen statt der weit weniger verbreiteten sinfonischen Fantasie „Pohjolas Tochter“. Letzteres ist freilich ein nicht minder präsentables Stück als jenes und nimmt, wie so manches von Sibelius, Bezug auf das finnische Nationalepos „Kalevala“. Auch „Pohjolas Tochter“kennzeichnet die für diesen Komponisten typische Verbindung von Naturlaut und Mystik, und dass die Aufführung zur faszinierend farbenreichen Schilderung der unerfüllten Sehnsucht des Helden Väinämöinen nach der schimärenhaften Pohjola-Tochter geriet, war maßgeblich einem Landsmann des Komponisten zu verdanken: dem als Gast verpflichteten Dirigenten Atso Almila.
Der finnische Faden wurde weitergesponnen mit dem zweiten Stück des Abends, einem Flötenkonzert der 1970 geborenen Lotta Wennäkoski, ausweislich des Programmhefts die führende Komponistin Finnlands. „Soie“, französisch für „Seide“, ist das Stück nach seinem Schlusssatz betitelt, die voraufgehenden sind mit „Schleier“und „Grobes Leinen“überschrieben. Gewebe, die sich klanglichstrukturell in der Komposition niederschlagen, in luftiger Bewegtheit ebenso wie in Ballungen und in Rascheln, Knistern, Schaben… Herausforderungen allesamt für den fa
belhaften Solisten Mario Caroli, der alle nur erdenklichen Spielweisen an seiner Querflöte zu exerzieren hatte, den horrenden Schwierigkeiten jedoch mit lässiger Souveränität begegnete. Debussys „Syrinx“gab er obendrauf.
Von Finnland ging es nach der Pause ins nahe gelegene St. Petersburg und doch gedanklich noch viel weiter Richtung Osten – RimskiKorsakows „Scheherazade“fußt, ohne Programmmusik im engeren Sinn zu sein, auf den Geschichten aus „1001 Nacht“. Und als Geschichtenerzähler ist Atso Almila, der aus der Schule des finnischen Meisterdirigenten-Machers Jorma Panula stammt, in seinem Element. Die Tempi legt er eher breit an, lässt dem Orchester damit Zeit fürs ge
nüssliche Formulieren, fürs stimmungsvolle Ausbreiten der partiturtypischen Orientalismen. Und gibt sich zugleich selbst Raum für kluge Spannungsdramaturgie, fürs Zuspitzen wie für das komplementäre Zurücksinken. Nur die Klangbalance gelang Almila zumindest im ersten Satz nicht optimal, da gerieten die langen Orchestertutti doch etwas lärmig – die finalen Wogen waren bedeutend besser abgestimmt.
Die „Scheherazade“ist aber nicht nur Bewährungsprobe für das orchestrale Zusammenwirken, sondern auch ein Dorado für solistische Darbietungen. Vorneweg natürlich für die erste Violine: Konzertmeisterin Jung-Eun Shin mischte in die Gestaltung des Scheherazade-Themas Wärme ebenso wie Sinnlichkeit
und später dann noch Leidenschaft. Aber auch an anderen ersten Pulten – Rimski-Korsakow beschenkt in diesem Stück beinahe jedes Register mit Solofrüchten – zeigten die Philharmoniker, dass sie ein Sammelbecken herrlich sprachmächtiger Fabulierer sind. Und nicht nur dort: Wunderbar schmelzend das Perlmutt des gesamten Streicherapparats im langsamen Satz, exotischverhangen die Farben der Holzbläser, bedrohlich-präzise das Blech insbesondere im Finale, immer wieder elektrisierend die Schlagwerker. Derart saftig vorgetragen, muss man, bei aller Neugier auf den „übrigen“Rimski-Korsakow, am Ende doch zugestehen: Tolles Stück! – Soll es ruhig seinen Lindwurm-Platz behaupten.