Europa verliert den Glauben an sich selbst
Die Lockerungen an den Binnengrenzen in der Corona-Krise sind vielversprechend. Sie bringen die EU aber kaum weiter
Das kleine Winzerdorf Schengen an der Grenze von Luxemburg zu Deutschland wurde vor 35 Jahren zum Symbol der Hoffnung. Ein Europa ohne Grenzen brachten die ersten EUStaaten hier auf den Weg, das Schengen-Abkommen gilt neben dem Euro als die wichtigste Errungenschaft der Union. Doch anstatt es mit ähnlich großem Aufwand zu hegen und zu pflegen wie die Gemeinschaftswährung, wird das Abkommen immer wieder torpediert.
Die ständige Terrorgefahr sorgt ohnehin fortwährend für Einschränkungen des freien Grenzverkehrs. Die letzte große Belastungsprobe musste der SchengenRaum nach den großen Flüchtlingsbewegungen im Herbst 2015 aushalten. Damals mahnten liberal denkende Geister, es dürfe keine neuen Schlagbäume im Herzen
Europas geben. Ein Warnruf, der unter dem Druck weitreichender Einschränkungen auch im Zuge der Corona-Krise nötig wurde. Und es weiterhin ist.
Die Binnengrenzen zu Deutschland werden wieder geöffnet. Stufenweise, teilweise und sehr vorsichtig. Das ist richtig so. Das Robert-Koch-Institut stuft keine Risikogebiete mehr ein, das Infektionsgeschehen in Nachbarländern wie Österreich oder der Schweiz gleicht sich immer mehr an. Vor allem gilt an den Grenzen, was auch im Inland gilt: Sobald das Infektionsgeschehen wieder in den roten Bereich dreht, werden die Übergänge schnell wieder dichtgemacht.
Gleichzeitig offenbart sich in den Lockerungsmaßnahmen eine große Handlungsunfähigkeit der Europäischen Union. Länder wie Tschechien und Polen ziehen bei den Grenzöffnungen nicht mit. Der EU-weite Machtkampf zwischen denen, die Schengen hochhalten, und denjenigen, für die der Gesundheitsschutz absolut ist, tobt weiter. In Brüssel haben sie unter der deutschen Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen in dieser Frage nur ein Unentschieden erreichen können. Corona sorgt für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, das in anderen Bereichen durchaus gewollt ist, hier aber verheerend wirkt.
Die Industrieproduktion beispielsweise kann nur anlaufen, wenn der freie Grenzverkehr mit allen EU-Mitgliedstaaten wieder möglich ist. Die bisherigen Ausnahmen reichen dafür nicht. Über die am Ende monetären Probleme hinaus ängstigen die politischen Auswirkungen dieser Kleinstaaterei. Der Austausch von Erfahrungen etwa im Kampf gegen das Virus etwa müsste und könnte viel stärker sein. Treffen der Parlamente – es könnten virtuelle sein – finden aber nicht statt. Deutschland und Frankreich nutzen ihren Einfluss nicht, um auf mehr Einigkeit zu dringen. Berlin und Paris sind wie alle anderen vor allem mit sich selbst beschäftigt.
Europäische Ansätze im Kampf gegen die Pandemie sind kaum vorhanden. Die EU verfügt zwar über das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten, aber das ist nur spärlich ausgestattet. Immerhin geben Äußerungen von Kanzlerin Angela Merkel Anlass zur Hoffnung, dass sich daran zumindest auf lange Sicht etwas ändern könnte.
Die Freude über die ersten vorsichtigen Öffnungen der deutschen Grenzen hin zu den Nachbarländern ist groß. Viele Menschen können jetzt anfangen, sich vorsichtig auf ihren Urlaub zu freuen. Das alles ist wichtig und das alles ist schön. Es reicht aber nicht. Wie schon in der Finanz-, so gilt auch in der CoronaKrise, dass Europa mit geeinten Kräften viel stärker im Kampf gegen das Virus wäre, es gemeinsam vielleicht sogar besiegen könnte. „Ein Europa, das schützt“, diese schon von vielen Spitzenpolitikern beschriebene Vision, gibt es in der Corona-Pandemie leider nicht.
Berlin und Paris sind mit sich selbst beschäftigt