„Jetzt ist die Zeit der Hausmusik“
Was in der Corona-Krise fehlt, ist das direkte Miteinander: Singen im Chor, Musizieren in einer Gruppe, gemeinsames Tanzen. Heimatpfleger Peter Fassl erklärt, welche Folgen das hat
Herr Fassl, das beliebte „Bayerisch Tanzen“muss nun schon lange ausfallen, auch im Chor singen, in einer Kapelle musizieren geht nicht mehr. Sie sind der Heimatpfleger für den Bezirk Schwaben, welche Folgen für die Traditionspflege hat diese Krise?
Peter Fassl:
Dann hat die Krise für Sie als Heimatpfleger auch viel Gutes.
Fassl: So gesehen, ja. Und viele werden auch erkennen: So gerne und so intensiv sie sich in einer virtuellen Realität bewegen, das Virtuelle kann das direkte soziale Miteinander nicht ersetzen. Sie können nun mal nicht virtuell Fußball spielen, sie können nicht virtuell in einer Kapelle musizieren – wir sind Menschen und wir brauchen andere Menschen und das direkte Erleben von Natur und Kultur.
Was hat diese persönliche Erkenntnis für Folgen? Werden die Vereine nach der Krise mehr Zulauf haben?
Fassl: Ich kann mir gut vorstellen, dass das Vereinsleben wieder intensiver aufleben wird. Vielleicht werden wir aber auch künftig kleinere Formen erleben. Interessant ist, dass Nachbarschaften anders gesehen werden: Von Beginn der Krise an entstanden beispielsweise Einkaufshilfen. Viele lernten erst jetzt ihre Nachbarn kennen, das bietet neue Chancen des Miteinanders. Vielleicht finden so sogar Menschen zueinander, die gemeinsam beispielsweise musizieren. Und viele Bräuche lassen sich auch im Kleinen pflegen.
Nennen Sie doch bitte Beispiele.
Fassl: Das fängt doch schon beim Essen an. Gerade das gemeinsame Essen ist ein wichtiger sozialer Akt mit langer Tradition. Und wer sich ein wenig mit dem religiösen Kalender beschäftigt, wird sehen, dass an besonderen Tagen bestimmte Speisen auf den Tisch kommen: Am Gründonnerstag etwa eine grüne Suppe, am Martinstag eine Gans. Bemerkenswert ist, dass die Hefe in der Corona-Krise ausgegangen ist. Das zeigt doch, dass in vielen Haushalten wieder bewusst und mehr gebacken wird. Und gerade das Backen des eigenen Brotes hat eine lange Tradition. Hinzu kommt, dass sich mit der intensiveren Naturwahrnehmung auch das Bewusstsein für regionale Produkte, saisonales Einkaufen und Konsumieren von Produkten der jeweiligen Jahreszeit bei vielen Menschen wieder verstärkt.
Das sind die guten Seiten. Sie haben aber auch die Amateurtheater angesprochen. Überleben sie die Krise?
Fassl: Sie sind in einer ausgesprochen schwierigen Lage. Man darf nicht vergessen: Hinter unseren vielen kleinen Amateurtheatern steckt ein enormes Engagement. Da sind ja nicht nur Schauspieler beteiligt, sondern beispielsweise auch Schneiderinnen und Menschen, die sich ums Bühnenbild kümmern. Und die Amateurtheater leben ausschließlich von den Einnahmen bei Aufführungen, sie bekommen keine andere finanzielle Unterstützung – und diese Einnahmen fallen jetzt ersatzlos weg. Folgenlos geht so eine Krise an den Amateurtheatern nicht vorbei.
Welche Folgen erwarten Sie für die Amateurtheater?
Fassl: Das wird sich erst noch zeigen. Sie können die Abstandsregeln weder bei den Schauspielern noch im Publikum im Moment einhalten. Ich glaube nicht, dass es später einfach ein Zurück zu vor der Krise geben wird. Vielleicht wird erst einmal mit Stücken in ganz kleinen Besetzungen und vor kleinem Publikum wieder gestartet. Vielleicht werden auch Themen aufgegriffen, die Erfahrungen aus der Krise widerspiegeln. Da darf man gespannt sein, weil hier sehr kreative Leute am Werk sind.
Das ist nicht nur bei den Theatern so.
Fassl: Natürlich nicht, es wird generell interessant werden, wie die Künstler in unserer Region die Krise in ihren Werken verarbeiten. Künstler nehmen eine entscheidende Rolle bei der geistigen Gesamtaufarbeitung so einer Krise ein. Und dann darf man nicht die historische Auseinandersetzung vergessen: Die Krise regt zu neuen landes- und ortsgeschichtlichen Forschungen an.
Was passiert hier genau?
Fassl: Es gibt eigentlich bis heute kein Menschenleben, das sich nicht mit einer Epidemie beschäftigen muss. So hat beispielsweise allein die Cholera in Augsburg 1854 knapp 1200 Tote bei etwa 40000 Einwohnern gefordert. 1918 folgte die Spanische Grippe mit vielen Toten. Ein Blick zurück in die Medizingeschichte zeigt: Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts waren Menschen Epidemien im Grunde völlig hilflos ausgeliefert.
Auch jetzt fehlen noch wirksame Medikamente und ein Impfstoff.
Fassl: Ja, momentan kommen wir wieder an eine Grenze und müssen erkennen: Nicht alles ist zu bewältigen. Das war für die Menschen früher eine ganz selbstverständliche Erfahrung. Und so eine Grenzerfahrung gibt wertvolle Besinnungsanstöße: Die Selbstermächtigung des Menschen wird zurückgestutzt. Im besten Fall führt das zu mehr Demut, zu mehr Bescheidenheit, zumindest wäre das die angemessene Haltung.
Peter Fassl, 65, ist Historiker und Diplom-Theologe. Seit über 30 Jahren ist der Augsburger Bezirksheimatpfleger.