Morgen, Kinder, wird’s nichts geben
Eigentlich würde Ewald Lindemeir jetzt die Buden für den Affinger Weihnachtsmarkt aufbauen. Doch die leuchtenden Sterne bleiben eingemottet, der Glühwein kalt. Nahezu alle größeren Märkte sind abgesagt. Eine Liebeserklärung an das, was in diesem Jahr fehl
Affing Über dem kleinen Stadel leuchtet der Stern von Bethlehem. Doch würden die hochschwangere Maria und ihr Angetrauter Josef hier klopfen, sie bekämen keinen Einlass. Fast jede Herberge ist in diesem Jahr kurz vor Weihnachten verschlossen. Holzvertäfelt die meisten Buden, an denen sich sonst die Massen um den Glühweinbottich drängeln, die Grills kalt – auch in Affing, der 5500-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Aichach-Friedberg.
Hier sind sie heute noch stolz darauf, dass ihr Weihnachtsmarkt im Schlosshof 2004 bei der Aktion einer Brauerei zum schönsten in ganz Bayern gekürt wurde. In dem kleinen Stall spielen normalerweise die Kinder Maria und Josef oder musizieren, um die Münzen aus ihrer
Spendenbox gleich wieder auf dem Markt in Mandeln, Waffeln oder Kinderpunsch zu investieren. Ewald Lindemeir, Vorsitzender eines Vereins mit dem etwas komplizierten Namen „Weihnachtsmarkt im Schloßhof Affing e.V.“, dreht dann normalerweise seine Runde über den Schlossplatz, bleibt an jedem der über 50 Stände mal stehen. Peter Castiglioni verkauft Fisch und betreut den Handwerkerstadel. Sonja Kind macht gebrannte Mandeln und koordiniert das Kinderprogramm an der Krippe.
Jetzt stehen sie auf der weitläufigen Wiese im Schlosshof, wo sich sonst an zwei Adventswochenenden Besucher durch den schieren Andrang und ihre heißen Glühweine gegenseitig wärmen. Und die Kälte kriecht der Vereinsspitze in die Funktionsjacken. Die drei organisieren in normalen Jahren den Affinger Weihnachtsmarkt. „Eigentlich hätten wir letzten Freitag mit dem Aufbauen angefangen“, erzählt Sonja Kind. Sie hätten mit dem Handwagen die Buden aus dem Stadel gezogen, in dem später die Handwerker ausstellen sollten. Sie hätten die Zwei-Meter-Sterne über das Gelände verteilt, die sich jetzt ganz ohne Glanz in einem Schuppen aneinanderreihen. Und Sonja Kind hätte den Holunder gestutzt, der sich in den marktfreien Monaten Jahr für Jahr wieder vor der Krippe in die Höhe arbeitet. Diesmal darf er weiterwachsen. Wie Hunderte andere ist auch der Affinger Weihnachtsmarkt im Schlosshof abgesagt.
Das heißt zwar, dass Lindemeir, Kind und Castiglioni zum ersten Mal seit Jahren wieder eine stade Zeit mit der Familie erleben werden, doch vielen Besuchern fehlt eben genau das, was die stade Zeit zur staden Zeit macht. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass der Verzicht auf Christkindlesmärkte manchen härter trifft als der Verzicht auf Alltag.
Gunther Hirschfelder, Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft an der Universität Regensburg, hat die Liebe der Menschen zu Weihnachtsmärkten schon auf der halben Welt in den Gesichtern gelesen. Er war auf Weihnachtsmärkten in Osaka, Kyoto, Mexiko-Stadt, Hyderabad. Und hierzulande natürlich. „Jetzt, wo die Märkte ausfallen, empfinden viele Menschen einen regelrechten Phantomschmerz“, sagt Hirschfelder. Tradition und Geborgenheit, das sind aus kulturwissenschaftlicher Sicht Faktoren, die Heimat bedeuten.
Es sind die Empfindungen, die auch ein guter Christkindlesmarkt anspricht. „Auf Weihnachtsmärkten erleben wir Gemeinschaft“, sagt Gunther Hirschfelder. „Man kann den Besuch als Ausnahmesituation deklarieren, muss sich keinen Stress machen, kann sich etwas gönnen und muss nicht auf Kalorien achten.“Und dann noch etwas, was mit der lieben Familie nicht so einfach möglich ist: „Jeder kann selbst steuern, wie viel Weihnachten er will – wenn es einem reicht, geht man einfach.“
Melanie Bottner geht nie ohne Christbaumschmuck – eigentlich. Und deshalb bleibt an ihrer Weihnachtstanne dieses Jahr eine Lücke. Die 31-Jährige kommt aus Nürnberg, der Lebkuchenstadt, mit einem der berühmtesten Christkindlesmärkte der Welt. Immer, wenn sie einen Adventsmarkt besucht – der Nürnberger muss es gar nicht unbedingt sein, lieber die kleinen –, kauft sie dort einen Anhänger für den Christbaum. „Eher klassische, Strohsterne, Holzfiguren“, erzählt die Ausbilderin im Einzelhandel.
„Es ist so eine romantische Vorstellung von mir und meinem Mann“, sagt sie, „dass wir irgendwann mit unseren Kindern vor dem Christbaum sitzen, sie ganz fasziniert sind von all dem Schmuck und wir ihnen dann die Geschichte zu jedem Anhänger erzählen können.“Zum Beispiel von dem hölzernen Nussknacker aus Mainz, der sie an ihre Schwester erinnert, die in Mainz lebt und mit der es zur Tradition geworden ist, einmal im Jahr gemeinsam über den Weihnachtsmarkt dort zu schlendern.
Oder die Geschichte aus den Flitterwochen letztes Jahr im Dezember. „Wir waren in Florida, es war heiß, wir waren am Strand – und da war dieser Stand mit lauter kitschiger Deko.“Sie lacht. Melanie Bottner und ihr Mann kauften einen Keramik-Anhänger in Form eines Nikolaus mit Palmen. „Als ich ihn jetzt aus dem Keller hochgeholt habe, waren die Bilder sofort wieder da“, sagt die Nürnbergerin. Das CoronaJahr bleibt ohne Anhänger. Ein Jahr zum Vergessen – und doch eines, über das Melanie Bottner ihren Kindern einmal viel erzählen wird.
Erinnerung, Geborgenheit, das warme Licht der Kindheit unterm Christbaum: Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder macht genau darin einen Grund dafür aus, dass wir Christkindlesmärkte so vermissen. „Die Menschen nehmen Weihnachten als positiv wahr, vor allem, wenn sie eine schöne Kindheit hatten. Der Besucher eines Weihnachtsmarktes will sich daran erinnern, an diese Bedürfnisse andocken“, sagt er.
Da sei es gar nicht wichtig, ob auf dem Weihnachtsmarkt alles original ist. Ist die Steaksemmel wirklich „traditionell gewürzt“und der Glühwein „nach einem jahrhundertealten Rezept“? Ach was, Hauptsache es vermittelt ein gutes Gefühl.
Hirschfelder, der vor allem die kleinen Adventsmärkte im Erzgebirge mag, schreibt in einem seiner Aufsätze, dass Weihnachtsmärkte speziell in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs einen Aufschwung erlebten. In den Jahren nach 1968 etwa oder in den Neunzigern, als man sich in einer zunehmend digitalisierten Welt erst neu zurechtfinden musste. Ist nicht jetzt wieder so eine Zeit, in der alles kopfsteht?
„Gebraucht hätten die Leute Weihnachtsmärkte heuer schon“, sagt Sonja Kind aus Affing und senkt den Blick in Richtung ihrer Schuhe. Auch Ewald Lindemeir findet: „Für die Gesellschaft wäre das schon wichtig gewesen.“Aber trotzdem, daran lassen sie keinen Zweifel, sehen beide ein, dass es zur Absage keine Alternative gab. Er sei noch Anfang September optimistisch gewesen, sagt der 45-Jährige. Aber der „Worst-Case-Gedanke“spukte schon in seinem Kopf herum. „Als dann die Auflagen da waren, war es für jeden von uns klar.“
Mund-Nasen-Schutz für alle, Kontaktdaten von allen, nur 200 Besucher auf dem Gelände – „und dann stehen 800 Leute am Eingang und dürfen nicht rein. Die kommen doch nie wieder“, sagt Lindemeir. Das Flair, das im Advent Menschen aus halb Bayern nach Affing lockt – jede Bude individuell von Hand geschmückt, die vielen Sterne, dazu die Kulisse mit Schloss und Kirche –, es wäre unter den Auflagen begraben worden. Da begruben sie lieber gleich den ganzen Markt.
Immerhin, die Absage bringt keinen der Aussteller in Existenznöte: „Die meisten unserer Aussteller machen das hobbymäßig“, sagt Sonja Kind. Nur die Jäger hatten ihr Wildgulasch schon vorbereitet und eingefroren.
Doch auch wer nicht von Weihnachten lebt, fühlt sich irgendwie leer. Nahezu alles, was das Jahr strukturierte, ist weggefallen. Geburtstage durften nur eingeschränkt gefeiert werden, Feiertage waren wie Homeoffice-Tage, nur ohne Computer. Aber: „Menschen brauchen ein kulturelles Ordnungssystem in Form von Festen und Bräuchen“, erklärt Kulturwissenschaftler Hirschfelder. „Wenn sie wegfallen, fehlt uns etwas.“
In Landshut versuchen sie jetzt, das bisschen Weihnachtsstimmung mit einem Drive-in-Weihnachtsmarkt zu konservieren. Mandelgeruch durchs Autofenster, künstlicher Schnee auf der Windschutzscheibe. Auch der Kiesweg rund um den Affinger Stadel, in dem sonst die Handwerker ihre Sachen verkaufen, böte sich dafür an. Peter Castiglioni winkt ab. Der richtige Markt oder gar keiner. „Die Vereine können selbst was veranstalten, aber das ist nicht unser Brot.“Auf der Internetseite der Schlossweihnacht bieten aber einige Schausteller ihre Produkte an.
Auch anderswo wollen Weihnachtsmarktplaner, die so jäh vom Virus getroffen wurden, die stade Zeit zumindest ein Stück weit retten – virenfrei vakuumiert sozusagen. In München, Ulm und Friedberg zum Beispiel kann man virtuell über
Kein Glühwein vertreibt die Kälte
OnlineWeihnachtsmärkte für die Stimmung
den Adventsmarkt schlendern und mit einem Klick auf die Stände online die alljährliche Bienenwachskerze oder Deko bestellen. Ebendort haben Ehrenamtliche ein leer stehendes Gebäude in ein Adventshaus verwandelt, in dem kleine Geschenke verkauft werden. In Landsberg soll jeder ein Licht in sein Fenster stellen. Und vielerorts gibt es zumindest kleine Adventsinseln.
Die Nürnbergerin Melanie Bottner trifft sich jetzt am Wochenende mit ihren Freundinnen zum digitalen Adventskranzbinden und überlegt, ob sie heuer für ihre Tanne nicht einfach selbst einen Christbaum-Anhänger bastelt. Kulturwissenschaftler Hirschfelder rät, die adventliche Ruhe zu nutzen, um sich „mit der ursprünglichen, religiösen Bedeutung des Festes auseinanderzusetzen. Dazu böte sich jetzt eine echte Chance.“
Und die Organisatoren aus Affing? „Wir essen unser Wildgulasch jetzt selbst zu Weihnachten“, sagt Sonja Kind. Und sie freut sich auf nächstes Jahr, wenn sie wieder in ihrem Stand Mandeln verkauft und die Leute vom preisgekrönten Flair ihres Weihnachtsmarktes schwärmen.