Das bewegt Menschen in Belarus
Eine Theaterlesung schildert die Motive
Durch 25 Jahre ging alles glatt, fünf Wahlen hatten exakt das erwünschte Ergebnis für Präsident Alexander Lukaschenko. Und jetzt sollte sich alles ändern? Die linientreue Direktorin des Gymnasiums ist fassungslos. Ihre Kolleginnen funktionieren nicht mehr, statt williger Wahlhelfer wollen sie kritische Wahlbeobachter sein. Dabei steht doch fest: „Der Präsident denkt für uns alle, er löst alle Probleme“, sagt die Direktorin. So überzeugt der Schauspieler Andrej Kaminsky die Sprechrolle vorträgt, könnte man fast meinen, die Direktorin gehe komplett in dieser Scheinwelt auf. Doch es sollte anders kommen in Andrei Kureichiks dichter, zeitgeschichtlicher Collage „Insulted. Belarus“. Das Staatstheater Augsburg besorgte am Donnerstagabend die deutsche Premiere.
Keiner der sieben Akteure hat einen eindeutigen Charakter, keiner ist nur gut oder nur böse. Der prominente belarussische Autor Kureichik entwirft in 70 Minuten ein packendes, hoch differenziertes Bild von den Menschen, die seit August 2020 in den politischen Umbruch in seinem Land einbezogen sind. In ihren Selbstzeugnissen erwacht Sehnsucht nach Freiheit, Empörung über die Lüge, das private Glück ebenso wie diktatorisches Herrschertum, Anpassung und nackte Gewalt.
Da ist Lena, die Optimistische (Mirjam Birkl). Sie wird in Kürze
Trauzeugin ihrer Schwester sein. Sie beflügelt der politische Aufbruch in Belarus, als Wahlbeobachterin wird unmittelbar mitkriegen, wie dreist der Machthaber das Volk betrügt. Ihren zukünftigen Schwager (Kai Windhövel) wird sie als paramilitärischen Schläger erleben, der im Dienst Lukaschenkos „mit den bezahlten Clowns“blutig aufräumt.
Sein Antipode ist ein Schlosser (Patrick Rupar), der als Hooligan gern die Fußballstadien aufmischt. Er wirft sich in die Straßenschlachten am Rande der friedlichen Massendemonstrationen und bezahlt mit einem qualvollen Foltertod. Immer dichter wird das Beziehungsnetz der Akteure und es ergeben sich persönliche Betroffenheiten, die alles in einem neuen Licht erscheinen lassen. Stur bleibt nur „der Alte“(Thomas Prazak). „Die Macht schwankt nicht“, betont der Diktator. Demokratie ist für ihn „eine Dummheit“. Sein Sohn (Florian Gerteis) will seinen Spaß und ärgert sich, dass wieder einmal das Internet abgedreht ist („Papa!“). Begriffen hat er bis zum Schluss nichts. Anders „die Neue“, die Oppositionsikone Tichanowskaja (Jenny Langner). Bis zum Sieg der Freiheit will sie durchhalten – und muss sich am Ende doch dem Zynismus des Machthabers beugen.
Alle sieben Schauspieler agieren solo aus ihren Wohnungen, erst auf dem Bildschirm verschmelzen sie zu einem Kollektiv, das Regisseur Andreas Merz-Raykov packend verdichtet. „Insulted. Belarus“sei „ein unglaubliches Material“, das die Charakterzeichnungen „in die Tiefe führt“, sagte er hernach beim Publikumsgespräch. Andrei Kureichik erzählte, er habe die Dialoge aus authentischem Material („die Protagonisten sind real“) geschöpft. 120 Lesungen fanden weltweit schon statt.