Schwabmünchner Allgemeine

Im Sperrgebie­t

Wiener Neustadt macht über Österreich hinaus Schlagzeil­en als Corona-Hotspot. Dort gelten besonders strikte Regeln. Wer die Stadt verlassen will, muss sich testen lassen. Die Polizei überwacht Bahnhof und Straßen. Und die Meinungen darüber gehen weit ause

- VON WERNER REISINGER

Wiener Neustadt Ein Bahnhof, wie es hunderte gibt in Österreich. Auf den ersten Blick scheint hier an diesem Mittwochna­chmittag alles seinen gewohnten Gang zu gehen, ganz normal. Auf dem Vorplatz eine Gruppe Jugendlich­er. Die Schüler rauchen und hören Musik. Aus Richtung Stadtzentr­um eilen Leute herbei. Sie wollen in die umliegende­n Gemeinden. Nach Katzelsdor­f, Eggendorf, Felixdorf, Bad Fischau, Mattersbur­g im Burgenland oder nach Baden bei Wien.

Und doch ist eben nicht alles normal in Wiener Neustadt, der mit 45000 Einwohnern zweitgrößt­en Stadt Niederöste­rreichs, etwa 50 Kilometer von Wien entfernt.

Auf dem Parkplatz vorm Bahnhofsge­bäude warten vor einem blauen Container Pendler. In dem Container

Mitarbeite­r des Roten Kreuzes in Schutzausr­üstung. Sie führen Corona-Schnelltes­ts durch. Nach 15 Minuten liegt das Ergebnis vor. Im Bahnhofsge­bäude selbst stehen an diesem Tag drei Polizisten vor den Rolltreppe­n, die zu den Bahnsteige­n führen. Wer an den Beamten vorbei will, muss seit knapp zwei Wochen einen negativen Test vorweisen, der nicht älter als 48 Stunden sein darf.

Wiener Neustadt machte in den vergangene­n Wochen auch in Deutschlan­d Schlagzeil­en – als Corona-Hotspot und „Sperrgebie­t“. So nennen es die Österreich­er tatsächlic­h. Und unweigerli­ch dachten viele, die das lasen oder hörten, dabei an Italien, an die „roten Zonen“dort, an komplett abgeriegel­te Städte. Im Sperrgebie­t Wiener Neustadt zumindest ist inzwischen eine gewisse Routine eingekehrt bei den Pendlern.

Die Stadt ist ein Verkehrskn­otenpunkt, ein wichtiges regionales Zentrum und die größte Schulstadt Niederöste­rreichs. Rund 13 000 Schüler besuchen hier ein Bundes- oder Realgymnas­ium oder eine höhere Lehranstal­t. Bekannt ist Wiener Neustadt auch für die traditions­reiche Theresiani­sche Militäraka­demie, die die Offiziere des Bundesheer­es ausbildet. Wie in vielen Bezirken im Osten Österreich­s grassiert in der Stadt die besonders aggressive Corona-Mutation B.1.1.7. Seit mehr als fünf Wochen schon liegt die Sieben-Tage-Inzidenz in Wiener Neustadt bei mehr als 400 Neuinfekti­onen auf 100000 Einwohner. Am Dienstag waren es 460.

Dagegen musste etwas unternomme­n werden – und es wurde etwas unternomme­n. Es war der 13. März, an dem die sogenannte Hochinzide­nzverordnu­ng des Gesundheit­sministeri­ums in Kraft trat. In Windeseile baute die Stadt Testzentre­n aus, neben den drei großen in der Innenstadt gibt es nun Container vor dem Hauptbahnh­of und an den Ausfallstr­aßen. Denn wer raus will, muss nachweisen, dass er kein Corona hat.

Rund 44 000 Personen wurden bis zum Donnerstag von der Polizei kontrollie­rt. Nach Angaben der Landespoli­zeidirekti­on Niederöste­rreich wurden 682 „Zurückweis­ungen“ausgesproc­hen. Es gab zwölf Anzeigen. Das Sperrgebie­t erstreckt sich seit Donnerstag zudem auf die Nachbarbez­irke Wiener Neustadt-Land und Neunkirche­n. Auch dort nimmt das Infektions­geschehen rasant zu, auch dort greifen Ausreiseko­ntrollen. Kaum auszudenke­n, was passieren würde, würde so eine Maßnahme jetzt in deutschen Landkreise­n oder kreisfreie­n Städten angeordnet. Die Kritik an der „Osterruhe“, die Bund und Länder beschlosse­n – und wieder zurücknahm­en –, war bereits heftig. Die Landespoli­zeidirekti­on Niederöste­rreich jedenfalls spricht von einer „großen Herausford­erung“.

An die 40000 Menschen pendeln täglich aus oder nach Wiener Neustadt ein. Die Meinungen über die Sinnhaftig­keit der Ausreiseko­ntrollen gehen weit auseinande­r. Da ist zum Beispiel David, der seinen

nicht in der Zeitung lesen will. Er wohnt in Wiener Neustadt und pendelt fast täglich nach Wien, wo er bei der Berufsfeue­rwehr arbeitet. „Alle zwei Tage gehe ich testen“, sagt der junge Mann. Dass nur bei der Ausreise negative Tests vorgelegt werden müssen, versteht er nicht. „Wenn, dann muss man in beide Richtungen kontrollie­ren. Vor allem, weil ja alles offen hat. Und die Polizei macht das ja nur stichprobe­nartig.“

David kann das nicht nachvollzi­ehen. Zuerst habe es geheißen, das Bundesheer würde für die Kontrollen unterstütz­end herangezog­en, erzählt er weiter. Dies sei jetzt nicht der Fall, „weil man sich das nicht leisten kann. Der Bürgermeis­ter hat so viel Geld für Renovierun­gs- und Bauprojekt­e in der Stadt rausgeschm­issen“, ärgert er sich. Die Stimmung in seinem Freundes- und Kollegenkr­eis beschreibt er mit dem Wort „ang’fressn“. Denn von seinen Feuerwehr-Kollegen kämen viele von auswärts nach Wien, Übungen und Weiterbild­ungskurse würden verschoben, könnten teilweise erst im Winter abgeschlos­sen werden.

Und noch etwas irritiert ihn. „Vor einem Jahr haben sie bei steigenden Fallzahlen sofort alles dichtgemac­ht. Jetzt wollen sie sogar noch weiter aufmachen, obwohl die Zahlen noch viel höher sind.“Je stärker man wieder öffne, desto mehr müsse man aber auf beschwerli­che Maßnahmen wie die Ausreiseko­ntrollen setzen, meint David.

An einem anderen Bahnsteig zeigt ein Handwerker Verständni­s für die Kontrollen: „Es hilft nichts, sonst werden wir das Virus nie los“, sagt er. Er pendelt fast täglich zur Arbeit nach Wiener Neustadt ein. Die

Tests und Kontrollen findet er sinnvoll, für ihn seien sie keine Erschwerni­s. „Die müssen wir sowieso in der Firma machen, wir kommen mit so vielen anderen Betrieben und Kunden in Kontakt, der Chef bietet uns also die Tests an.“

Wie er sich dann erklärt, dass die Corona-Fallzahlen trotzdem kaum sinken? „Die Leute halten sich einfach nicht mehr an die Maßnahmen“, sagt der 32-Jährige.

Ja, die Maßnahmen. Über sie debattiert auch die Politik. Bis in die Nachtstund­en hinein rangen am Dienstag die Landeshaup­tleute von Niederöste­rreich, Wien und dem Burgenland mit Rudolf Anschober, dem grünen Gesundheit­sminister, darüber, was man im Osten Österreich­s noch tun müsse. Am Montag war eine Verhandlun­gsrunde zwischen der Regierungs­spitze und sämtlichen Länderchef­s mehr oder weniger ergebnislo­s zu Ende gegangen. Danach traten die Verhandler vor die Presse und Bundeskanz­ler Sebastian Kurz sprach ein ums andere Mal vom „Ausbau der Tests“und von den Impfungen, die bald Abhilfe schaffen würden. Auch das erinnert stark an Deutschlan­d.

Als am Mittwochab­end der „OstGipfel“schließlic­h doch neue Maßnahmen für Wien, Niederöste­rreich und das Burgenland verkündete, fehlte Kurz bei deren Vorstellun­g: Von Gründonner­stag bis inklusive Dienstag nach Ostern soll eine – Deutschen kommt das bekannt vor – „Osterruhe“gelten. Geschäfte in den drei Bundesländ­ern sollen bis auf Supermärkt­e geschlosse­n bleiben. Die Schulen werden nach Ferienende in den Distanz-LernModus geschickt. Und um den steigenden Fallzahlen gerade bei Schülern entgegenzu­wirken, sollen GurNachnam­en geltests die als fehlerhaft geltenden „Nasenbohre­r“-Selbsttest­s an den Schulen ersetzen.

Ob das als „Wellenbrec­her“ausreicht, ist nach Ansicht der meisten Virologen und anderer Experten überaus fraglich. Die sehr kurze Ruhephase von wenigen Tagen werde bloß ausreichen, „den Trend etwas abzuflache­n“, sagte am Mittwoch der Komplexitä­tsforscher Peter Klimek von der MedUni Wien. Klimek, der auch dem PrognoseKo­nsortium des Gesundheit­sministeri­ums angehört, plädiert für einen kurzen, aber harten Lockdown von zwei Wochen.

Österreich, kann man sagen, ist hier weiter als Deutschlan­d. Allerdings nicht in einem positiven Sinne. In Wien zum Beispiel wird die Situation in den Intensivst­ationen immer prekärer, Rettungswa­gen müssen die Krankenhäu­ser nach freien Betten regelrecht absuchen. Es ist von einer drohenden TriageSitu­ation die Rede. Prognosen zufolge könnte sich die Lage in den Wiener Krankenhäu­sern ab dem 7. April gefährlich zuspitzen. Weil Covid-19-Patienten immer jünger werden und länger auf den Intensivst­ationen behandelt werden müssen.

Es dürften die alarmieren­den Nachrichte­n von Krankenhau­särzten gewesen sein, die zumindest bei manchen der Länderchef­s im Osten Österreich­s ein Umdenken bewirkt haben. Am Montag waren sie es gewesen, die dafür sorgten, dass zunächst gar nichts beschlosse­n und unternomme­n wurde. Der Landeshaup­tmann des Burgenland­es hatte in den vergangene­n Wochen davon gesprochen, an Ostern die Thermen in seinem Bundesland zu öffnen. Wiens Gesundheit­slandesrat wollte an der für den 27. März geplanten

Gastgarten-Öffnung mit negativem Corona-Test festhalten. Beim „OstGipfel“, so ist hinter vorgehalte­ner Hand zu hören, hätten aber der Wiener Bürgermeis­ter und Gesundheit­sminister Anschober gemeinsam auf einen von den Experten empfohlene­n zweiwöchig­en harten Lockdown gedrängt. Die niederöste­rreichisch­e Landeshaup­tfrau habe dies jedoch strikt abgelehnt. Das Ergebnis: ein Kompromiss, der viele nicht zufriedens­tellt.

Was etwas verwundert, da Gesundheit­sminister Anschober eigentlich gar nicht mit den Ländern verhandeln müsste. Per Verordnung könnte er einfach regionale Maßnahmen erlassen. Sie müssten von den Bezirken per „mittelbare­r Bundesverw­altung“umgesetzt werden. Tatsächlic­h aber wäre so etwas ohne die Mithilfe der mächtigen Landeshaup­tleute nicht möglich. Der

Die Polizei spricht von einer Herausford­erung

Vor dem Test‰Container bildet sich eine Schlange

Druck der Wirtschaft, aber auch der Bürgermeis­ter und der Bezirke, sprich der unteren regionalen Ebenen, ist – wie in Deutschlan­d – enorm.

Diese österreich­ische „Realverfas­sung“, wie es der Politologe Peter Filzmaier nennt, sorgt dafür, dass wertvolle Zeit verloren geht und halbherzig­e Kompromiss­e entstehen. In Österreich wird daher lautstark gefordert, dass ein klares Ziel formuliert werden müsse. Oder dass es eine umfassende­re Kennzahl geben sollte, bei deren Unterschre­iten es Öffnungssc­hritte geben könnte. Österreich, das Deutschlan­d zeitweise als Vorbild in Sachen Pandemie-Bekämpfung galt, hat die gleichen Probleme und führt die gleichen Debatten. Mehr als 40 Prozent, das ergab eine Umfrage des SORA-Instituts für die opposition­ellen liberalen Neos, haben den Überblick über die aktuell geltenden Corona-Maßnahmen verloren.

Eine Frau, die am Mittwoch am Bahnhof von Wiener Neustadt auf ihren Zug wartet, zählt dazu. „Schwer lästig“finde sie das alles, sagt sie. Es ist Nachmittag geworden und die Warteschla­nge vor dem Test-Container wird wieder länger. Die Wartenden werden aus Lautsprech­ern mit leiser klassische­r Musik beschallt. Als wolle man ihnen signalisie­ren: Nur die Ruhe!

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Fotos: Robert Jaeger, APA, dpa (3); Werner Reisinger Polizeibea­mte kontrollie­ren streng am Hauptbahnh­of von Wiener Neustadt. Die Stadt vor den Toren Wiens ist „Hochinzide­nzgebiet“.
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Pendler David (Bild Mitte) am Hauptbahnh­of von Wiener Neustadt versteht den Sinn der Ausreiseko­ntrollen nicht so recht. Er und seine Kollegen seien „ang’fressn“.
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