Sind Kinder Treiber der Pandemie?
Die Inzidenzwerte bei den Jüngsten steigen. Doch die nackten Zahlen könnten wenig Aussagekraft haben
Stadtbergen/Berlin Das Thema „Kinder und Corona“ist seit Beginn der Pandemie umstritten. Von „Virenschleudern“bis „völlig unbeteiligt am Infektionsgeschehen“reichen die Einschätzungen, welche Rolle Kinder bei der Verbreitung spielen. Dr. Christian Voigt, Kinderarzt aus Stadtbergen bei Augsburg und nordschwäbischer Verbandsobmann der Kinder- und Jugendärzte, sagt unserer Redaktion, anfangs habe es so ausgesehen, als hätten Kinder und auch Jugendliche so gut wie keinen Einfluss auf das Geschehen. Inzwischen sei die Einschätzung, auch aufgrund der Mutationen des Virus, differenzierter.
Gerade bei der jungen Bevölkerung würde die Zahl der Corona-Infektionen inzwischen deutlich nach oben gehen. Er selbst habe in seiner Praxis immer wieder positiv getestete Kinder, und immer noch viele ohne Symptome. Er nehme wöchentlich bei etwa 30 bis 40 seiner kleinen Patientinnen und Patienten Abstriche. Davon würde etwa ein Kind positiv getestet.
Was heißt das nun? Welche Bedeutung haben Schulen und Kitas für die Verbreitung des Coronavirus und unter welchen Umständen darf beziehungsweise muss man sie öffnen? Eine eindeutige, wissenschaftlich fundierte Antwort gibt es (noch) nicht. Zunächst sind da die vom Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Zahlen. Ein Vergleich der erfassten Fälle zwischen der letzten Februar-Woche und genau einen Monat später zeigt: Bei den unter Vierjährigen lag die SiebenTage-Inzidenz (Fälle pro 100000 Einwohner und Woche) Ende März um 162 Prozent höher. Bei den Fünf- bis Neunjährigen waren es sogar 228 Prozent, bei den Zehn- bis 14-Jährigen knapp 200 Prozent.
Zum Vergleich: Auf alle Altersklassen bezogen lag der Anstieg der Sieben-Tage-Inzidenz bei 103 Prozent. Heißt das jetzt, dass sich das Virus unter Kindern und Jugendlichen besonders rasant ausbreitet? Nein, so einfach ist es nicht.
Laut der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) sowie weiteren Experten und Forschern tragen Kinder aktuell nicht überproportional zum Infektionsgeschehen bei. Dem schließt sich auch Voigt an. Das könne aber auch daran liegen, dass noch immer Kitas geschlossen seien und in den Schulen nur eingeschränkt Präsenzunterricht stattfindet, relativiert er. Denn auch alle anderen in dieser Jahreszeit häufig anzutreffenden Viren wie Keuchhusten, Adeno- und Rhinoviren kämen vergleichsweise selten vor. Es gebe auch kaum schwere Grippefälle, hat der schwäbische Arzt festgestellt. Er wertet das zudem als ein Anzeichen, dass die Infektionsketten durch den Fernunterricht weitgehend unterbrochen sind.
Warum steigen dann die CoronaInzidenzwerte trotzdem? Da nennen Kinderarztverbände die mittlerweile gestiegene Testzahl in diesen Gruppen als Grund. Ein Vergleich zu anderen Altersklassen anhand der Inzidenzen sei daher nicht aussagekräftig.
Tatsächlich stieg zwischen etwa Ende Februar und Ende März die Zahl der PCR-Getesteten bei den unter Vierjährigen um etwa ein Drittel, bei den Fünf- bis 14-Jährigen um 14 Prozent. Denkbar ist aber, dass beispielsweise die obligatorischen Schnell- und Selbsttests an den Schulen dazu führen, dass mehr Infizierte auffallen, zum PCR-Test geschickt werden und dann als „positiv“in die Statistik eingehen. Das würde bedeuten, dass die PCRTests gezielter eingesetzt würden.
Man könne aus der jüngsten Entwicklung „nicht schließen, dass die Kinder in der aktuellen Situation häufiger betroffen oder sogar Treiber der Ausbreitung wären“, sagt der Epidemiologe der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin, Timo Ulrichs. Studien zeigen lediglich, dass sich das Coronavirus im Rachen von Kindern genauso stark vermehren kann wie bei Erwachsenen.
Trotzdem plädiert Epidemiologe Ulrichs in Anbetracht der dritten Corona-Welle für eine weitreichende Schließung von Kitas und Schulen als Baustein einer großen Strategie, um Kontakte zu vermeiden. Dagegen argumentiert Johannes Hübner, stellvertretender Direktor der Kinderklinik und Kinderpoliklinik der Universität München: „Schulschließungen sollten wirklich das allerletzte Mittel sein.“In vielen Bereichen seien Einschränkungen mit Geld wiedergutzumachen. Doch bei Kindern und Jugendlichen gebe es „so viele Kollateralschäden“, wenn sie ständig daheim seien. Dazu zählt er Fälle von häuslicher Gewalt, Bewegungsmangel und eine fehlende Interaktion mit den Freunden. Ganz zu schweigen vom verpassten Schulstoff.