Auf den Spuren der jüdischen Familie Einstein
Wer war die Familie, nach der demnächst die bisherige Langemarckstraße benannt wird? Historikerin Monika Müller hat sich mit dem Schicksal der im Stadtteil Kriegshaber angesehenen Juden befasst
Die Tage der Langemarckstraße in Kriegshaber sind gezählt. Voraussichtlich Mitte Mai ändert sich für rund 1000 Bürger die Adresse, wenn die Straßenschilder ausgetauscht werden. Künftig steht auf ihnen „Familie-Einstein-Straße“. So hat es der Stadtrat beschlossen, der damit einer Empfehlung der Erinnerungskommission folgt. Die Nationalsozialisten hatten die Straße einst nach dem belgischen Ort Langemarck benannt, um einer dort im Ersten Weltkrieg stattgefundenen blutigen Schlacht zu huldigen. Dieser Bezug soll nun mit der Namensänderung verschwinden.
Es ist relativ ungewöhnlich, eine Straße nicht nach einer Einzelperson, sondern nach einer ganzen Familie zu benennen. Die jüdische Familie Einstein, die wohl seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Kriegshaber lebte, hat sich im Stadtteil auf vielfältige Weise engagiert – unter anderem in der Synagoge in der Ulmer Straße 228. In dem ehemaligen Gebetshaus, das nach seiner Sanierung eine Außenstelle des Jüdischen Museums Augsburg ist, treffen wir Monika Müller. Die Historikerin und Museumskuratorin hat sich für die Reihe „Lebenslinien. Deutsch-jüdische Familiengeschichten“auf die Spuren der Einsteins begeben und ihre Recherchen in ein fast 100-seitiges, reich illustriertes Buch gepackt.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine Frau, die 1925 als Liese Einstein in Kriegshaber als zweites Kind von Lydia und Moriz Einstein zur Welt kam. Wie schon seine Vorfahren verdienten Moriz und nahezu alle seiner sechs Brüder ihren Lebensunterhalt als Metzger und Viehhändler. Die Großfamilie war bei den Kriegshaberern aber nicht nur wegen ihres Berufs angesehen. „Sie haben den Ort mitgeprägt, waren im Turnverein, beim Roten Kreuz und in der Feuerwehr aktiv“, sagt Müller. Als gläubige Juden engagierten sie sich in der Synagoge, auch als nach der Eingemeindung Kriegshabers 1916 nach Augsburg für viele ihrer Glaubensbrüder und -schwestern die Synagoge in der Halderstraße zur Gebetsstätte wurde. „Die Einsteins haben einen Vorbeter bezahlt, damit in Kriegshaber weiterhin Gottesdienste gefeiert werden konnten“, weiß die Historikerin.
In diese gut-bürgerliche Welt wurde also Liese hineingeboren. Ein Bild im Lebenslinien-Buch zeigt das kleine Mädchen 1926 an der Seite ihres ein Jahr älteren Bruders Siegbert – zwei bildhübsche, glücklich lächelnde Kinder, die nichts von dem Unheil ahnen, das die Nationalsozialisten über ihre Familie bringen sollten. Mit ihren Eltern und einigen Verwandten lebten die Geschwister schräg gegenüber der Synagoge in dem Haus Ulmer Straße 185. Liese ging zunächst in die nahe gelegene Schule in Kriegshaber, später besuchte sie das heutige Maria-Theresia-Gymnasium. Eine hochbetagte Nachbarin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will, erinnert sich noch lebhaft an die gemeinsamen Völkerballspiele mit dem Mädchen und seinem Bruder. Und an den Tag, als die Freunde nicht mehr da waren.
Um ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit zu bringen, schickten die Eltern Liese und Siegbert 1939 mit einem sogenannten Kindertransport nach England. Moriz und Lydia Einstein und andere Verwandte blieben in Kriegshaber zurück, in der ständigen Angst, deportiert zu werden. Einige von ihnen ereilte dieses Schicksal 1942, sie kamen im polnischen Getto Piaski ums Leben. Die anderen, darunter Moriz und Lydia, wurden im März 1943 nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Die Nachbarin hat als Teenager dieses dunkle Kapitel miterlebt: „Es war so furchtbar für uns, diese guten Nachbarn zu verlieren.“Die Verbindung zu den jüdischen Mitbürgern hatte die katholische Familie zu dieser Zeit bereits gezwungenermaßen gekappt. „Mein Vater war von der Gestapo wegen unserer Kontakte angezeigt worden.“Ihre Häuser hatten die Einsteins schon Monate zuvor verlassen und der Polizeiverwaltung des Deutschen Reichs verkaufen müssen – Moriz und Lydia verbrachten die letzten Monate in Kriegshaber in der zur Zwangsunterkunft umfunktionierten Rabbinerwohnung der Synagoge.
Liese, deren Bruder 1940 an einer Krankheit starb, erfuhr im Exil in
England vom Tod ihrer Eltern und Verwandten. Wenige Jahre später siedelte sie in die USA über, wo sie 1954 Harry Fischer heiratete. Die Verbindung zu ihrer Heimatstadt hielt sie dennoch aufrecht. Als einzige Überlebende hatte Liese Fischer schon mehrfach als wichtige Zeitzeugin gedient und stand auch für die Lebenslinien-Recherchen in regelmäßigem Kontakt mit Monika Müller. 2012 lernte die Historikerin die damals 87-Jährige bei einem Besuch in Augsburg kennen. Noch heute ist sie schwer beeindruckt von „dieser starken, sehr sympathischen Frau“, die immer nach vorne geblickt und ihr ihre Geschichte anvertraut habe.
Während ihrer Visite in der alten Heimat besichtigte Liese Fischer die ehemalige Synagoge in Kriegshaber, die zu dieser Zeit eine Baustelle war: Nach mehrjähriger Sanierung dient sie seit 2014 als Dependance des Jüdischen Museums. Dass dort ein Bild von ihr an der Seite ihres Bruders zu sehen ist, hätte ihr bestimmt ebenso gefallen wie die Ehre, die die Stadt Augsburg ihrer Familie nun erweist. Erfahren hat von der Straßenumbenennung nur noch ihre Tochter Diane. Liese Fischer ist vor eineinhalb Jahren in den USA gestorben.
Ob Diane nach der Corona-Pandemie der Heimatstadt ihrer Vorfahren einen Besuch abstattet? Dann könnte sie durch die Familie-Einstein-Straße flanieren, auf dem Jüdischen Friedhof die Gräber der dort bestatteten Verwandten besichtigen und in der Ulmer Straße 185 vorbeischauen, wo ihre Mutter Liese ihre Kindheit verbrachte. Und sie würde an einem Masten vor dem noch erhaltenen Haus eine Tafel entdecken, die an ihre Familie erinnert.
Sie brachten ihre Kinder vor den Nazis in Sicherheit
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