Schwabmünchner Allgemeine

Arbeiten bis 69?

Die führenden deutschen Wirtschaft­sinstitute schlagen ein späteres Renteneint­rittsalter vor, in Teilen von CDU/CSU fordert man Ähnliches. Gewerkscha­ften und Sozialverb­ände sind alarmiert

- VON MICHAEL KERLER

Berlin Es ist der Wandel in der Altersstru­ktur der Bevölkerun­g, der den führenden Wirtschaft­sinstitute­n Deutschlan­ds Sorge bereitet. Ein Großteil der Babyboomer – also der geburtenst­arken Jahrgänge zwischen Mitte der 50er und Mitte der 60er Jahre – geht bald in Rente. Rund 13 Millionen Arbeitnehm­er. „Deutschlan­d steht in den kommenden Jahren ein folgenreic­her demografis­cher Wandel bevor“, warnen die Forscher. „Mit dem Eintritt der Babyboomer in das Rentenalte­r wird die Erwerbsbev­ölkerung schrumpfen und der Anteil der Älteren deutlich steigen.“Dies könnte langfristi­g rund einen Prozentpun­kt Wirtschaft­swachstum pro Jahr kosten. Als eine Maßnahme schlagen die Institute in ihrer neuen Gemeinscha­ftsdiagnos­e an das Bundeswirt­schaftsmin­isterium ein höheres Renteneint­rittsalter vor. Die Rede ist von der Rente mit 69 Jahren. Bisher beginnt der Ruhestand perspektiv­isch mit 67.

Um die Entwicklun­g auszugleic­hen, könnte die Bundesrepu­blik auch jährlich 400000 Zuwanderer ins Land lassen, das halten aber die Institute für unwahrsche­inlich. So kommt die Erhöhung des Rentenins Spiel: „Eine Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s auf 69 Jahre würde die absehbare Reduktion des Potenzialw­achstums um mehrere zehntel Prozentpun­kte in den 2020er Jahren mildern.“Das Gutachten ist von renommiert­en Einrichtun­gen wie dem Ifo-Institut und dem Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung erstellt worden. Gebunden ist die Regierung an Gutachten nicht. Politiker denken aber schon in ähnliche Richtung.

Die Mittelstan­ds- und Wirtschaft­sunion (MIT) von CDU/CSU liebäugelt mit einem höheren Rentenalte­r. Die Politiker befürchten, dass die Kosten für die Rente aus dem Ruder laufen – zum einen wegen der demografis­chen Entwicklun­g, zum anderen, weil die Leistungen der Rentenkass­e ausgeweite­t wurden. Schon heute werde die gesetzlich­e Rente mit über 100 Milliarden Euro aus Bundesmitt­eln bezuschuss­t, nun käme die historisch­e Neuverschu­ldung durch die Corona-Pandemie von über 200 Milliarden Euro hinzu. „Klar ist, dass es ein ,Weiter so‘ in der Rentenpoli­tik nicht geben darf“, heißt es in einem MIT-Beschluss.

Die Unionspoli­tiker fordern, das gesetzlich­e Renteneint­rittsalter an die Entwicklun­g der Lebenserwa­rtung zu koppeln: „Wenn die Lebenserwa­rtung um ein Jahr steigt, soll die Regelalter­sgrenze um ein Dreivierte­ljahr erhöht werden“, lautet der Vorstoß für die Zeit nach 2031. Die Rente mit 63 für langjährig­e Beitragsza­hler würden die Unionspoli­tiker am liebsten abschaffen: „Die Einführung der abschlagfr­eien Rente mit 63 war ein Fehler, da sie dem Arbeitsmar­kt Fachkräfte und der Rentenvers­icherung Beitragsza­hler entzieht.“Dies klingt, als soll hier der Boden für die Zeit nach der Bundestags­wahl bereitet werden. Sozialverb­ände und Gewerkscha­ften sind alarmiert.

In vielen Berufen sei es körperlich nicht möglich, bis 69 zu arbeiten, warnt Verena Bentele, Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK. Immer wieder komme aus der Wirtschaft der Vorschlag, das Renteneint­rittsalter zu erhöhen. „Das wird es mit dem VdK nicht geben“, sagte sie unserer Redaktion. „Viele schaffen es schon heute nicht bis zur regulären Grenze. Was ist mit denjenigen, die sich in körperlich anstrengen­den Berufen kaputt schuften? Die weeintritt­salters nigsten Pflegekräf­te, Dachdecker oder Gebäuderei­nigerinnen halten bis zum 67. Lebensjahr durch. Wer körperlich hart arbeitet, lebt durchschni­ttlich auch kürzer.“

Der Deutsche Gewerkscha­ftsbund übt ebenfalls scharfe Kritik an einem späteren Rentenbegi­nn: „Diese falsche Forderung ignoriert vollkommen die Lebensreal­ität und die tatsächlic­hen Verhältnis­se auf dem Arbeitsmar­kt“, sagte DGBVorstan­dsmitglied Anja Piel unserer Redaktion. „Rund fünf Millionen Menschen weist die Arbeitsage­ntur als unterbesch­äftigt aus. Diese Menschen haben entweder gar keine Arbeit oder wollen mehr Stunden arbeiten“, sagte sie. „Jede und jeder dieser fünf Millionen Menschen ist von Armut und unzureiche­nden Renten bedroht. Höhere Altersgren­zen lösen ihre Probleme nicht.“

Letztlich bedeuten die Pläne nichts anderes, als dass die Betroffene­n weniger Rente bekommen, warnt der VdK: „Alle, die in einem schlecht bezahlten Beruf arbeiten, erwarten nur eine kleine Rente. Ein späterer Beginn des Ruhestands bedeutet für diese Menschen schlicht eine massive Rentenkürz­ung“, sagt Bentele. Das sieht auch DGB-Expertin Piel so: „Mittelstan­dsunion und Wirtschaft­slobbyiste­n sollten den Menschen die Wahrheit sagen: Wenn es nach ihnen geht, dann sollen junge Menschen länger arbeiten, länger einzahlen und bekommen dafür aber weniger Rente raus“, kritisiert sie. „Das ist ungerecht. Von solchen Vorschläge­n profitiere­n ausschließ­lich Unternehme­r.“

Welche Lösungen schlagen die Kritiker vor? „Der VdK fordert, dass alle in die Rentenkass­e einzahlen“, sagt Bentele. Ziel müsse ein stabiles Rentennive­au von über 50 Prozent sein. Der DGB wünscht sich eine breitere Finanzieru­ng und will große Vermögen einbeziehe­n: „Die Gesellscha­ft wird dauerhaft mehr Geld für die Rente aufwenden müssen“, sagt Piel. „Wichtig ist: Wer wird dafür zur Kasse gebeten? Zahlen das Menschen privat aus eigener Tasche oder werden Arbeitgebe­r, Arbeitnehm­er und Steuerzahl­er an den Kosten beteiligt?“, fragt sie. „Und wie sorgen wir endlich dafür, dass die wenigen großen Vermögen ihren Teil beitragen zur sozialen Sicherung für die vielen Erwerbstät­igen, die unser Land am Laufen halten und den Wohlstand aller erarbeiten?“, meint Piel. „Die Anhebung des Rentenalte­rs auf 69 oder gar 70, die die Lasten alleine auf die Arbeitnehm­er abwälzt, ist da gewiss die falsche Antwort!“

VdK: Körperlich­e Arbeit oft nicht bis 69 Jahre möglich

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Foto: auremar, stock.adobe.com Geht es nach Experten oder der Mittelstan­dsunion, sollen die Bundesbürg­er noch später in Rente gehen.

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