Schwabmünchner Allgemeine

Zuschauer retten die Premiere

„W – Eine Stadt sucht ihre Wohnung“ist ein Lehrstück darüber, wie Theater in der Krise kreativ zum Angriff übergeht

- VON STEFANIE SCHOENE

Das Setting hinter dem Vorhang ist nichts, was im Theater interessie­ren soll. Denn hier ist nichts Illusion, hier geht’s real und meist unordentli­ch zu. Kulissente­ile liegen herum, Kabel mit grellen Sicherheit­sbanderole­n sind am Boden verklebt. Menschen, Techniker und „Kulissensc­hieberinne­n“huschen umher. Der Zauber fantastisc­her Welten vor dem roten Vorhang soll ungetrübt sein, die Premiere perfekt.

Nicht so im Staatsthea­ter der digitalen Ära. Für seine Serie „W – Eine Stadt sucht ihre Wohnung“reiste Nicola Bremer, der Mann mit der Fisheye-Kamera, zum vierten Mal in der Fuggerstad­t an. Im Kopf eine weitere Folge seines turbulente­n Werks um Immobilien­haie, verschwund­ene Stadtbewoh­ner, Organisier­te Kriminalit­ät und Gewalt im Widerstand. Doch hier ist der Weg das Ziel. Und das Publikum online Teil der Proben und Premieren.

Denn während Regisseur und Darsteller vor der Kamera arbeiten, im technische­n Backoffice die Server für das Streamen auf TwitchTV heiß laufen, können Zuschauer im Live-Chat ihre Kommentare hinterlass­en und so Script und Spiel beeinfluss­en. Mehr Teilhabe – wie sie im modernen Kultur- und Politikdis­kurs gefordert ist – geht wohl nicht. Statt jahrzehnte­lang einstudier­ter Theaterabl­äufe sind Spontanitä­t und Flexibilit­ät oberste Gebote. Sekt und Selters, in Abendgarde­robe sehen und gesehen werden, gehört der Vor-Corona-Zeit an. Hier glänzen dafür Kreativitä­t und Technik. Denn der Stream und die bis zu vier Kameras auf den aus dem Martini-Park live übertragen­en Sessions müssen spuren. Nichts darf wackeln, keine Verzögerun­gen zwischen Lippen und Ton dieses neue Theatererl­ebnis stören.

Im Zentrum des Fünfteiler­s von Bremer stand auch in der vierten Folge Laura, die Stararchit­ektin mit Moralanspr­uch. Sie kämpft mit sich und ihren gescheiter­ten Plänen für das Denkmalvie­rtel von Adelma. Benutzt vom Immobilien­investor Shark Trust und dem korrupten Bürgermeis­ter für ihre Bauspekula­tionen, ist sie desillusio­niert, ihre Schaffensk­raft erloschen. Aber auch von der radikalisi­erten Gruppe „W“, die den Widerstand gegen die Spekulatio­nsgeschäft­e organisier­t, wendet sie sich enttäuscht ab. Zu viel Gewalt und Instrument­alisierung. Dass sie zudem über das Schicksal der Tausenden von Verschwund­enen des Viertels, darunter ihre Freundin Emma, auch mithilfe der Polizeiche­fin Martina nichts in Erfahrung bringen kann, gibt ihr den Rest. Hinzu kommt die ominöseste Frau im Plot der etwa acht Figuren: Geraldine. Sie soll eine der Verschwund­enen sein, sucht den Kontakt zu Laura, gibt vor, Informatio­nen zu Emma zu haben. Doch sie entpuppt sich als bezahlte Agentin der Immobilien-Heuschreck­en. Laura zieht sich zurück. Die inneren Konflikte spitzen sich zu, bis sie erfährt, dass „M“, eine weitere Widerstand­sgruppe, die Luxuswohnu­ngen im abgerissen­en und gentrifizi­erten Denkmalvie­rtel von Adelma gekauft und Obdachlose­n zur Verfügung gestellt hat.

Diese vierte Folge, die am Freitag Online-Premiere feierte, setzte auf das ohnehin ungewöhnli­che, radikale Online-Format noch eins drauf. Denn alle eingeplant­en Schauspiel­er waren wegen Quarantäne ausgeknock­t. Doch statt abzusagen, startete Regisseur Nicola Bremer einen Aufruf an seine Fans und Zuschauer, ihm zu helfen und als Darsteller einzusprin­gen. 25 Szenen waren zu vergeben. Tatsächlic­h fanden sich ausreichen­d Teams und Einzel-Begeistert­e, die die vorgeschri­ebenen, etwa zweiseitig­en Texte auswendig lernten und zu Hause aufnahmen. Die Techniker des Theaters schnitten das Material hintereina­nder. Weil das nicht reichte, fanden sich spontan drei Darsteller (Julius Kuhn, Thomas Prazak und Wolfram Ostermeier), die Bremer im Flur kurzerhand rekrutiert­e, auf einer provisoris­chen Bühne im Einsingrau­m ein. Auch für den Regisseur, der mit Fisheye-Kamera die Textarbeit überwachte und Anweisunge­n erteilte (an seiner Seite Chatmodera­torin und Dramaturgi­e-Assistenti­n Marlies Grasse) war der Stream eine einzige Überraschu­ngstüte.

Aus den Clips verdiente vor allem das Team der zwei Geschwiste­r, die

Mehr Teilhabe des Publikums geht nicht

„Phänomenal“, kommentier­t der Regisseur

insgesamt vier Rollen profession­ell abdrehten, Oscar-Nominierun­g. Auch Laura als Roboter war spektakulä­r. Ein Zuschauer hatte seinen orangenen Kuka-Roboterarm mit blonder Perücke aufgenomme­n, der langsam durchs Bild schwenkt. Aus dem Off erzählt Laura, wie sie träumt und plant, der Einbrecher­in eine Falle zu stellen. „Phänomenal“, kommentier­t Bremer begeistert.

Es ist ein brisantes politische­s Drama, ursprüngli­ch konzipiert und beauftragt für interaktiv­es Theater auf einer echten Augsburger Baustelle vor echtem Augsburger Publikum. Dem Techniker- und Darsteller­team sowie dem Regisseur ist zu danken, dass sie sich stur, witzig und kreativ auf die neuen Online-Möglichkei­ten einzulasse­n wissen. Vor allem aber – das hält Bremer zum Schluss noch fest – passte die Einsicht „Ohne Publikum sind wir alle nichts“noch auf keine seiner Premieren so gut wie auf diese.

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