Schwabmünchner Allgemeine

Berührende Botschafte­n für die Zeit danach

An den Wertachkli­niken Schwabmünc­hen und Bobingen wird für Patienten der Intensivst­ation ein Tagebuch geführt. Was dort eingetrage­n wird, erklärt Pflegeexpe­rtin Jeanette Lohrey

- VON MAXIMILIAN CZYSZ

Bobingen Normalerwe­ise werden in einem Tagebuch ganz persönlich­e Eindrücke festgehalt­en. Patienten der Intensivst­ation können das nicht – sie befinden sich während der Beatmung oft im künstliche­n Koma.

Um alles rund um den Aufenthalt in den Wertachkli­niken Bobingen und Schwabmünc­hen festzuhalt­en, schreiben Pflegekräf­te und Angehörige ins Tagebuch. Die Aufzeichnu­ngen sollen später helfen, die Zeit auf der Intensivst­ation später besser zu verstehen und zu verarbeite­n. Für die Pflegeexpe­rtin Jeanette Lohrey ist das Buch eine Herzensang­elegenheit. Im Studium hatte sich die 24-Jährige bereits mit dem Thema ihrer Bachelor-Arbeit befasst.

Ein Tagebuch ohne eigene Handschrif­t? Wie muss man sich das vorstellen?

Jeanette Lohrey: Das Tagebuch ist gedacht für Patienten, die nicht genau mitbekomme­n, was mit ihnen passiert.

Was tragen Sie und Ihre Kollegen ein?

Lohrey:

Zum Beispiel, was wir mit dem Patienten erlebt haben. Wenn er etwa zum ersten Mal ohne Unterstütz­ung einer Maschine wieder selbst geatmet hat. Oder wenn er zum ersten Mal alleine an der Bettkante sitzt. Manchmal halten wir auch fest, wenn der Patient Ängste oder Sorgen hat. Genauso kann man auch schreiben, dass es draußen schneit oder ein besonderer Feiertag ist. Mit Corona haben wir ein zusätzlich­es Blatt eingefügt, auf dem Angehörige persönlich­e Vorlieben des Patienten angeben können.

Warum?

Lohrey: Das ist wichtig, weil wir den Patienten nicht mehr zu seinen Vorlieben befragen und ihn so besser kennenlern­en können. Manchmal sind es nur Kleinigkei­ten: Was schmeckt ihm? Möchte er rasiert werden? Welcher Duft gefällt ihm? Pflege lässt sich so spontan sehr individuel­l gestalten.

Um das Tagebuch zu schreiben, benötigen Pflegekräf­te eine sehr gute Wahrnehmun­g.

Lohrey: Das stimmt. Für uns Pflegekräf­te ist das Tagebuch im Gegenzug auch eine Möglichkei­t, die persönlich­e Beziehung zum Patienten noch mehr aufzubauen. Wir können eigene Emotionen einfließen lassen und so auch die Verbundenh­eit zu den Betroffene­n ausdrücken. Manchmal passiert es ja auch, dass Patienten schon nicht mehr ansprechba­r sind, wenn sie zu uns kommen. Corona macht’s noch schwierige­r, weil keine Angehörige­n auf die Intensivst­ation kommen dürfen.

Führen das Tagebuch nur die Pflegekräf­te?

Lohrey: Nein, das ist ganz unterschie­dlich. Es dürfen auch Freunde etwas hineinschr­eiben – jeder, der dem Patienten nahesteht. Tagebuchsc­hreiben ist für mich immer eine Teamleistu­ng.

Was sind die Reaktionen von Patienten?

Lohrey: Teilweise sind die Menschen zunächst zögerlich. Viele brauchen Zeit, um das Tagebuch zu lesen. Viele nehmen es dann aber dankbar an. Das Tagebuch ist Eigentum der Patienten und sie können frei entscheide­n, was sie damit machen.

Mit dem Tagebuch schließen sie eine Erinnerung­slücke, die oft mit dem Aufenthalt auf der Intensivst­ation entsteht.

Lohrey: Viele ehemalige Patienten haben nach dem künstliche­n Koma Albträume oder Angstzustä­nde. Sie können die Erinnerung­slücken nicht greifen. Ein Tagebuch kann helfen, diese Lücken einzuordne­n.

Haben Sie ein Beispiel?

Lohrey: Ein früherer Patient bekam an der Tankstelle immer Angstzustä­nde, als er Benzin roch. Irgendwann stellte sich heraus, dass ihm in der Klinik mit Wundbenzin die Nase vom Pflaster für die Magensonde gereinigt wurde. Durch das

Tagebuch wurde dann klar, was es damit auf sich hatte. Man darf ja nicht vergessen: Patienten schlafen im künstliche­n Koma ja nicht komplett. Sie bekommen viele Geräusche und Gerüche mit.

Was ist, wenn ein Patient nicht überlebt? Was passiert mit dem Tagebuch?

Lohrey: Das ist schwierig. Wir brauchen bestimmte Vorgaben aus der Patientenv­erfügung, um das Tagebuch der Familie aushändige­n zu dürfen. Wir entscheide­n schon vorher als Team individuel­l, ob wir ein Tagebuch beginnen.

Woher kam die Idee dazu?

Lohrey: Ich hatte in einer Fachzeitsc­hrift vom Tagebuch gelesen. Für mich wurde es dann zu einem Traumproje­kt. Allerdings musste ich auch feststelle­n, dass nicht alles so leicht umzusetzen ist. Die rechtliche­n Fallstrick­e und Vorgaben können manchmal Kopfzerbre­chen bereiten. Es gab aber viele Hilfestell­ungen von Pflegewiss­enschaftle­rn. Wir haben das Tagebuch-Projekt dann an den Wertachkli­niken entworfen und in eine Pilotphase geschickt. Mit einer Projektgru­ppe wurde dann alles geschärft.

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Foto: Wertachkli­niken Pflegeexpe­rtin Jeanette Lohrey von den Wertachkli­niken Schwabmünc­hen und Bobingen.

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