Wie die Corona-Politik an der Rechtsordnung kratzt
Die Regierung greift in der Pandemie in die Grundrechte der Bürger ein. Es ist überfällig, dass sich endlich das Bundesverfassungsgericht damit befasst
Immer öfter hört man in der Corona-Debatte den Satz, der Staat müsse den Bürgern „die Grundrechte zurückgeben“. Diese Formulierung ist Unsinn: Der Staat kann auch in der Pandemie weder Grundrechte einfach wegnehmen noch zurückgeben. Grundrechte sind schlicht dafür da, insbesondere in Krisenzeiten zu gelten. Gleichwohl hat der Staat das verfassungsmäßige Recht, in bestimmte Grundrechte einzugreifen, das gilt selbst für das Freiheitsrecht.
Der Artikel zwei des Grundgesetzes bringt das Spannungsfeld der Pandemie klar auf den Punkt: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden.“Ob das „Notbremsen“-Gesetz mit der Ausgangssperre damit verfassungskonform vereinbar ist, will das Bundesverfassungsgericht in Ruhe klären. Auch wenn die Pandemie dann schon vorbei sein könnte.
Auch die anderen Gerichte tun sich schwer: Während zum Beispiel der bayerische Verfassungsgerichtshof eine landesweite Ausgangssperre absegnete, verwarf der Verwaltungsgerichtshof Mannheim sie im Nachbarland BadenWürttemberg. Die sich ständig ändernden Corona-Regeln überfordern nicht nur die Bürger, sondern viele Verwaltungsgerichte. Ein besonderes Problem ist, dass die Eingriffe eben nicht unmittelbar konkret „aufgrund eines Gesetzes“erfolgten, sondern lange nur per Verordnung der Landesregierungen.
Für große Fragen der Politik ist Regieren per Verordnung demokratisch alles andere als unbedenklich, wie man in den USA sehen kann. Ein Sinnbild dafür ist, wie
Donald Trump im Oval Office triumphierend seine frisch unterschriebenen „Executive Orders“in die Kameras hielt. Meist hoch umstrittene Entscheidungen wie der Ausstieg aus dem Klimaprotokoll, die nicht nach kontroverser Debatte im Parlament fielen, sondern per Verordnung. Diesen bereits unter George W. Bush auf die Spitze getriebenen Regierungsstil nutzte auch Barack Obama eifrig, um umstrittene Entscheidungen am Parlament vorbei zu treffen.
In Deutschland tun sich Gerichte aus vielerlei Gründen schwer, Entscheidungen über Corona-Verordnungen zu treffen. Oft wurde der Inhalt mehrfach verändert, bis ein Urteil formuliert ist. Oft sind die Begründungen der Verordnungen unzureichend. Und lange Zeit war das hinter allem stehende Infektionsschutzgesetz viel zu unkonkret.
So entstand ein Flickenteppich aus Corona-Maßnahmen und oft widersprüchlichen Gerichtsurteilen.
Namhafte Juristen bezeichnen viele der Urteile letztendlich als politisch und kritisieren, dass das in Artikel 19 formulierte Grundrecht der Bürger auf den Gerichtsweg gegen Staatsentscheidungen beschädigt sei. Auch wenn die Gerichtsbarkeit in der Pandemie funktioniert, hat die Corona-Politik die Rechtsordnung an den Rand einer Krise geführt: Die Verordnungspolitik kratzt vor allem an den Rollen von Parlamenten und Justiz im demokratischen Gewaltenprinzip.
Ein Teil der Ordnung wurde nach über einem Jahr der Pandemie mit dem nun konkreten und vom Parlament beschlossenen Bundesinfektionsschutzgesetz wiederhergestellt. Endlich landen Klagen gegen Grundrechtseingriffe dort, wo sie hingehören: vor dem Verfassungsgericht. Auch wenn sich Kritiker der Maßnahmen im Eilverfahren mehr erwartet haben, für den Rechtsfrieden in der Pandemie ist es überfällig, dass Karlsruhe die Corona-Politik nun überprüft.
Verordnungspolitik ist demokratisch bedenklich