Die unfreiwillige Rückkehr der Klimakanzlerin
Getrieben vom Bundesverfassungsgericht legt die Große Koalition beim Umweltschutz nach. Dazu will Merkel die große Bühne nutzen
Berlin Als Klimakanzlerin hatte Angela Merkel eigentlich schon abgedankt. Zwar bekannte sie sich in hochfliegenden Zielen zur Rettung des Planeten, aber in der Regierungspraxis erreichte die Klimaschutzpolitik nicht die nötige Flughöhe: Erst 2038 müssen die letzten Kohlekraftwerke vom Netz, und seit Jahren werden viel, weniger Windräder an Land aufgestellt, als gebraucht werden. Doch kurz vor dem Ende der Ära Merkel streift sich die 66-Jährige das Kostüm der Klimakanzlerin noch einmal über.
Für das Comeback nutzt sie eine Bühne, die sie selbst gebaut hat. Am Donnerstag wird die CDU-Politikerin auf dem internationalen Petersberger Klimadialog sprechen, den sie 2010 ins Leben rief. Aufmerksamkeit ist garantiert, weil sich auch UNO-Generalsekretär Antonio Guterres und der britische Premier Boris Johnson angekündigt haben.
Die Gespräche laufen bereits auf der Fachebene, und die, die dicht dran sind, erwarten zwei Dinge: Merkel wird ärmeren Ländern mehr Geld aus Deutschland zusagen, um die Folgen der Erderwärmung wie Dürren, Überschwemmungen und schlechte Ernten besser verkraften zu können. Und sie wird bekannt geben, dass sich Deutschland in den letzten Zügen ihrer Kanzlerschaft wieder zum Musterschüler im Klimaschutz aufschwingt.
Die SPD wollte ihr den großen Aufschlag nicht alleine überlassen und präsentierte am Mittwoch schon mal eigene Eckpunkte, die sich aber mit den Vorstellungen aus Merkels Lager weitgehend decken. „Nun hat das Bundesverfassungsgericht einen neuen Schub möglich gemacht“, sagte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Damit legte er den Finger in die Wunde: Die Kanzlerin hat den Klimaschutz nicht aus freien Stücken neu entdeckt.
Das Verfassungsgericht hat sie durch sein wegweisendes Urteil zum bestehenden Klimagesetz dazu gedrängt. Weil der Wahlkampf begonnen hat und die Grünen in Umfragen CDU und CSU hinter sich lassen, ist die juristische Schlappe am Ende eine Chance, wieder Boden gutzumachen. Und Merkel ist entschlossen, sie zu ergreifen. In der Bundestagsfraktion der Union wird intensiv an der konsequenten Senkung des Kohlendioxidausstoßes gearbeitet. Bis 2045 – so die Zielstellung – soll Deutschland klimaneutral sein. Das heißt, die Industrienation soll dann unter dem Strich kein CO2 mehr in die Atmosphäre schicken. Das wäre fünf Jahre eher als bisher angestrebt. In Bayern will Ministerpräsident Markus Söder das sogar schon 2040 erreichen. Dafür werden Schritte diskutiert, die bis vor kurzem in der Union noch undenkbar waren. So soll die seit Jahresbeginn gültige CO2-Steuer angehoben werden. Schon nächstes Jahr soll der Ausstoß einer Tonne CO2, die beim Heizen und Autofahren entsteht, 45 Euro kosten. Derzeit kostet sie 25 Euro. Damit würden zwei Zwischenschritte entfallen.
Ziel ist es, die Leute dazu zu bewegen, sich eine neue Heizung einbauen zu lassen oder ein Elektroauto anzuschaffen. Die Einnahmen aus der Abgabe sollen die Steuerzahler zurückbekommen, indem die Ökostromumlage schrittweise abgeschafft und die Stromsteuer gesenkt werden.
Zudem liegt als Vorschlag auf dem Tisch, alle öffentlichen Gebäude mit einer Solaranlage auszustatten und ab 2035 keine Neuwagen mehr mit Benzin- oder Dieselmotor zuzulassen. Die Autos sollen entweder von einem Akku, durch Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe angetrieben werden. „Wir werden das Heft des Handelns in die Hand nehmen“, sagte die Klimaschutzbeauftragte der Unionsfraktion Anja Weisgerber unserer Redaktion. Damit die Bürger den tief greifenden
Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft mitmachen, dürften sie finanziell nicht überfordert werden. „Für uns steht die Akzeptanz der Menschen im Mittelpunkt“, meinte Weisgerber (CSU).
Um vor dem Verfassungsgericht nicht ein zweites Mal zu verlieren, sollen konkrete Wegmarken gesetzt werden. Im Jahr 2030 wird nach den Überlegungen die „doppelte 65“gelten. 65 Prozent Anteil von Windkraft, Solarenergie und Biomasse an der Stromerzeugung und 65 Prozent weniger CO2-Ausstoß im Vergleich zum Basisjahr 1990. Das sind zehn Prozentpunkte mehr als bisher.
Dass strengere Klimaschutzvorgaben bei CDU und CSU nun mehrheitsfähig sind, liegt nicht nur an Verfassungsrichtern und dem Hoch der Grünen. Mit Georg Nüßlein und Joachim Pfeiffer haben zwei Energiepolitiker
keinen Einfluss mehr. Nüßlein stürzte über die Maskenaffäre, Pfeiffer zieht sich nach Veröffentlichungen über seine Nebentätigkeiten nach der Wahl aus dem Bundestag zurück. Schon nächste Woche soll das nachgeschärfte Klimaschutzgesetz im Kabinett beschlossen werden. Rasch auf das Urteil aus Karlsruhe zu reagieren, „steht uns gut an“, sagte Merkel laut Teilnehmern in der Fraktion. Beim Koalitionspartner SPD rennt sie damit offene Türen ein. Die Genossen wollten schon 2019 den CO2-Ausstoß stärker senken, blieben aber am Widerstand der Union hängen. Die Sozialdemokraten werden darauf achten, dass die Belastungen sozial abgefedert werden und Mieter nicht etwa die Solaranlage von Vermietern finanzieren.
Die Grünen betrachten den neuen Ehrgeiz der Regierenden beim Kampf gegen die Erderwärmung interessiert. Offen ist die Folge bei der Wahl: Die Grünen setzen darauf, dass die Wähler beim Original ihr Kreuz machen und halten die neuen Ansätze bei Union und SPD für Anfänge. „Erfolgreicher Klimaschutz fängt nicht irgendwann später an, sondern jetzt und sofort“, sagte die klimapolitische Sprecherin Lisa Badum unserer Redaktion. Sie fordert einen Kohleausstieg bis 2030, die Entfesselung erneuerbarer Energien und einen gerecht verteilten CO2-Preis von 60 Euro ab 2023.
Deutschland müsse die ärmeren Länder mit mindestens acht Milliarden Euro unterstützen, um Klimawandelfolgen zu lindern. „Deutschland trägt dabei als großes Industrieland historische Verantwortung“, erklärte Badum. Wie bisher aus den Fachgesprächen des Petersberger Dialogs zu hören ist, will die Kanzlerin sechs Milliarden versprechen.