So also schmeckt der Gardasee
Das mildeste Olivenöl, der fruchtigste Limoncello und regionale Wurst- und Käsespezialitäten: Wer am beliebtesten See Italiens unterwegs ist, kann abseits der Touristenströme viele kulinarische Entdeckungen machen
Oberhalb des Gardasees hat die Vergangenheit nicht aufgehört und die Zukunft nie begonnen. Irgendwann muss Sermerio in ein Zeitloch gefallen sein – und mit ihm die 40, 50 Menschen, die noch hier leben. Die Schaufenster der Bar, die einst den Blick auf das kleine Fitzelchen Gardasee eröffneten, das von hier oben zu sehen ist, sind mit Stoffbahnen verhängt, den Weg zum Zwei-Sterne-Hotel riegelt rot-weißes Flatterband ab. Vorübergehend geschlossen – irgendwie scheint dies für den ganzen Ort Programm zu sein.
Sermerio hat die besten Zeiten hinter sich, viele Häuser sind nur noch Feriendomizile für Touristen. Die kommen für wenige Wochen im Jahr und hoffen auf ein Stück Gardasee-Glück, das mit dem Trubel unten am Wasser nichts, aber auch gar nichts gemein hat.
Und tatsächlich: Wer in Limone von der Panoramastraße abbiegt, fährt nach wenigen Kehren in die Beschaulichkeit. Tremosine, ein Zusammenschluss von 18 Ortschaften, zu dem auch Sermerio gehört, liegt auf einer Hochebene und hat zusammen gerade 2000 Einwohner. Olivenbäume und Weinstöcke gibt es wahrscheinlich mehr. Das Klima hier, heißt es, sei das angenehmste am Gardasee, die größeren Orte sind bei Wellness- und Wanderurlaubern beliebt – bei Feinschmeckern sind sie es auch.
Im Lokal der Genossenschaft „Alpe del Garda“haben die Angestellten an diesem Abend alle Hände voll zu tun. Sieben, acht Autos mit deutschen Kennzeichen stehen vor der Tür, ein paar Italiener sind ebenfalls da. Tobias aus München, der mit seiner Familie ein Ferienhaus in der Nähe hat, empfiehlt Polenta Cusa, ein einfaches, italienisches Gericht, verfeinert mit Käse, der nebenan hergestellt wird.
Fast alle Zutaten für die Gerichte, die hier serviert werden, stammen aus der Region: 1980 gründeten einige Züchter und Landwirte die Genossenschaft, schlossen eine Molkerei und einen Laden an, in dem es Produkte aus der Hochebene von Tremosine gibt. An manchen Tagen muss man für Wurst und Käse bis zu einer halben Stunde anstehen, die Qualität der Produkte hat sich herumgesprochen. Die Genossenschaft trifft den Nerv vieler Urlauber: Sie garantiert kurze Transportwege und eine zertifizierte Produktionskette für ihre Waren. Manche Touristinnen und Touristen kommen jedes Mal hier hoch, wenn sie am Gardasee Urlaub machen.
Das Hinterland hat seine Reize, trotzdem tummeln sich die meisten lieber unten, direkt am See. Auf der Straße rund um den Lago macht sich das täglich bemerkbar: Der Stau aus Linienbussen, viel zu breiten Wohnmobilen und ungeübten Autofahrern sorgt auf der engen Gardesana Occidentale, der Straße entlang des Westufers, regelmäßig für ein kleines Chaos.
Selbst jetzt, da wegen Corona nur rund 80 Prozent des Tourismus wieder angelaufen sind, erfordern hier die geringsten Distanzen Geduld. Doch beim Stop-and-Go schärft sich der Blick für kleine Entdeckungen am Straßenrand. Was zum Beispiel hat es mit den Bauten aus Steinsäulen auf sich, die hier an steilsten Hängen kleben?
In Gargnano erfahren wir mehr. Dort betreibt Fabio Gandossi seine traditionelle Limonaia, einen Zitronengarten, wie es sie am Gardasee seit Jahrhunderten gibt. Gandossi – bärtig, kleiner Bierbauch, Lockenkopf – steht im weißen Shirt an einem Holztisch, schneidet Zitronen und wartet auf Gäste, die hier herzlich willkommen sind. Gleich wird er sie bei einem Glas selbst gemachter Limonade mitnehmen in die Vergangenheit, als Zitronengärten hier noch allgegenwärtig waren. Um 1700, sagt er, sei das Panorama des Städtchens Gargnano fast ausschließlich von Zitruspflanzen dominiert gewesen. Heute betreibt Gandossi seine Limonaia als einer der letzten Zitrusbauern noch auf die traditionelle Art. Und das heißt: Handarbeit.
Die Franziskanermönche waren es, die die Zitronenzucht am Gardasee einführten, über lange Zeit war sie einer der führenden Wirtschaftszweige. Heute sind die abenteuerlichen Gartenbauten aus Steinsäulen, Terrassen, Holzpfählen und steinernen Wasserrinnen verfallen oder wurden architektonisch in Hotels und Privathäuser integriert. Gandossis Vater kaufte die von Bougainvillea umrankte Limonaia Ende der 70er, die Liebe zu den Bäumen gab er an seinen Sohn weiter.
Fabio Gandossi verbringt die meiste Zeit des Tages im Zitronengarten. „Manchmal fühle ich mich wie ein Tempelhüter“, sagt er. Regelmäßig steigt er auf die schmalen Leitern hoch zu den Früchten, um ihren Reifegrad zu prüfen. Zehn Monate braucht es, bis sich aus den kleinen weißen Blüten Zitronen entwickeln. Zehn Monate und gutes Wetter. „Im Winter decke ich den Garten mit Fichtenbrettern ab, um die Pflanzen vor Frost zu schützen“, sagt Gandossi. Zehn Tage, dann ist die ganze Limonaia geschlossen. Wird es richtig kalt, entzündet Gandossi ein Holzfeuer für ein paar Grad mehr. Zitronen zu kultivieren, sagt er, mache Arbeit, doch sie lohnt sich: La Malora produziert rund 20.000 Früchte im Jahr, ihre Schale ist dünn, der Saft herb. Gandossi freut sich, wenn seine Gäste den feinen Unterschied zwischen grünem und gelbem Limoncello herausschmecken.
Das Olivenöl vom See ist ähnlich berühmt: Es gilt als eines der mildesten und verträglichsten. Jetzt, im Sommer, bekommen Besucherinnen und Besucher der kleinen Ölmühlen, der Frantoi, wenig mit vom Erntebetrieb. Der läuft erst im Oktober an, und so stehen Sortiermaschinen und Pressen in der Ölmühle der Familie Manestrini an diesem Sommertag blitzblank und schweigend in der Produktionshalle.
„Im Herbst werden Sie diesen Ort nicht wiedererkennen“, erzählt
Francesca einer Besuchergruppe. Die ganze Familie und zahlreiche Erntehelfer werden dann nach Soiano am südlichen Ende des Gardasees kommen, um die kleinen Früchte per Hand zu ernten und sie danach binnen weniger Stunden zu Öl zu verarbeiten.
Wer zum Olivenhain der Familie Manestrini fährt, verlässt die Enge der Gardesana Occidentale und atmet auf ob der Weite, die die Landschaft im Süden des Sees eröffnet. Überall stehen Olivenbäume, der Blick kann schweifen, ohne an Bergwänden abzuprallen.
Sieben Olivensorten wachsen im Garten der Familie Manestrini, die vor rund 60 Jahren ins „Ölgeschäft“eingestiegen ist und inzwischen rund 2000 Bäume besitzt. Den Spaziergang durch den Garten begleitet das Zirpen tausender Zikaden, doch so sehr man sich auch müht: Sehen kann man sie nirgends. Ein Olivenbaum kann bis zu 25 Kilo Früchte tragen, daraus lassen sich vier bis fünf Liter Öl gewinnen. Die Schalen wiederum werden zu Seife, die Kerne zum Heizen verwendet. Francesca gefällt die Idee, dass alles verwertet wird: „Diese Bäume sind teils 200 Jahre alt. Man muss sie achten.“
Auch wenn Francesca zur Verkostung einlädt, kommt sie ins Schwärmen. Der Säuregehalt von Olivenöl, sagt sie, liege normalerweise zwischen 0,1 und 0,8. „Unseres hat 0,3“, erzählt sie und schwenkt das flüssige Gold erst leicht in einem Plastikbecherchen hin und her, um dann die Hand für
Und fast alle Zutaten stammen aus der Region
Schwärmen bei der OlivenölVerkostung
kurze Zeit darüberzulegen. „So entfaltet sich das Aroma.“
Ein bisschen funktioniert die Verkostung wie eine Weinprobe: riechen, schwenken, riechen, Hand drüber, riechen, probieren – aber halt: nicht schlucken. „Sie müssen das Olivenöl durch Ihren Mund ziehen, am besten lächeln sie dabei und ziehen ein bisschen Luft ein“, erklärt die junge Frau. „Geschluckt wird später, dann erst spüren sie die leichte Schärfe des Öls.“
Das liebste Produkt ist den Touristinnen und Touristen hier ein Öl aus zwei Olivensorten, ein Cuvée sozusagen: „Unser DOP-Öl wird nur aus Oliven dieses kleinen Gebiets hergestellt.“Es ist, verrät Francesca, der Lamborghini unter den Olivenölen.
Auch in der Trattoria Il Riolet in Gordone wird zum Abendessen Olivenöl aus der Region serviert. Viele Restaurants arbeiten inzwischen mit Herstellern aus der Nachbarschaft zusammen, um nachhaltige Produkte anbieten zu können. Eines davon ist die Coregone, ein magerer Fisch aus dem Gardasee, in dem davon abgesehen auch der Hecht und der Alborella zuhause sind.
Während im Riolet noch diniert wird, sind in Sermerio für diesen Abend schon die meisten Lichter ausgegangen. Irgendwann, munkeln die Bewohner, könnte sich das aber wieder ändern: Ein Investor hat offenbar Interesse am Hotel angemeldet. Dann könnte vielleicht auch Sermerio wieder stärker vom Gardasee-Glück profitieren …