Sie beten, aber sie wählen nicht
Politik Weniger als die Hälfte der Menschen im Irak stimmt über das Parlament ab. Gerade die Jungen glauben nicht, dass ihre Stimme etwas ändert im Land der Korruption und der Glaubenskriege – so wie Abdulsahib al Salami. Er hat die Konflikte am eigenen L
Bagdad Am Ende wird Abdulsahib al Salami überhaupt nicht wählen gehen. „Wenn ich die Plakate auf den Straßen sehe, denke ich: Nicht schon wieder! Immer die gleichen Gesichter“, sagt er kurz zuvor noch in einem Restaurant im MansourViertel in Bagdad. Dass seine Stimme im Irak etwas verändern würde, glaubt er nicht. Und er ist damit nicht allein. So lag die Beteiligung bei den Parlamentswahlen am Sonntag auf einem Rekordtief: Gerade mal 41 Prozent der Irakerinnen und Iraker nahmen am Urnengang teil.
Vor zwei Jahren, im Oktober 2019, war Al Salami noch dabei gewesen, als tausende junge Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gingen, um gegen Korruption, Misswirtschaft und Gewalt zu protestieren. Der Student der Landwirtschaft hat die jüngere Geschichte des Irak am eigenen Leib erlebt. Erst starb sein Vater 2006 bei einem Selbstmordanschlag, dann wurde der Tennisplatz, auf dem er immer spielte, von einer pro-iranischen Miliz besetzt. Und zuletzt kam der Bruder eines seiner Freunde bei den Protesten auf dem Bagdader TahrirPlatz ums Leben.
Al Salami wünscht sich einen Neuanfang. „Dieses Land muss sich verändern, damit meine Generation eine Zukunft hat“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Die Sorte, die er raucht, trägt einen Namen, der passender kaum sein könnte: Change. Wandel.
Doch so einen Neubeginn wird es nach den Wahlen vom letzten Sonntag nicht geben. Die endgültigen Resultate werden zwar erst in den nächsten Tagen erwartet. Dennoch scheint bereits jetzt klar, dass die traditionellen, konfessionell ausgerichteten Parteien, die das Land nach dem Einmarsch der Amerikaner beherrschten, auch diesmal die Oberhand behalten werden.
Denn im Irak, wo vor kurzem noch der selbst ernannte Islamische Staat für Angst und Schrecken sorgte, teilen sich die muslimischen Glaubensgemeinschaften der Schiiten und Sunniten sowie die Volksgruppe der Kurden die Macht. Zudem ist das Land seit zwei Jahrzehnten ein Schlachtfeld, auf dem nahe und ferne Mächte ihre Differenzen austragen. Vor allem die USA und der Iran führen hier einen Stellvertreterkrieg. So töteten die Amerikaner im Januar 2019 in Bagdad den iranischen General Kassim Suleimani.
Im Irak herrscht ein fragiles Gleichgewicht
Die Iraner wiederum rächen sich seither, indem sie die verbliebenen US-Soldaten im Irak immer wieder von verbündeten Milizen mit Raketen beschießen lassen.
Im Irak herrscht eine Art fragiles Gleichgewicht der Mächte. Wird es gestört, könnte das Land so enden wie Afghanistan, wo die radikal-islamischen Taliban die vom Westen unterstützte Republik innerhalb kürzester Zeit einfach überrannten.
Aber während in Kabul inzwischen die Islamisten regieren, wirkte Bagdad in den Tagen vor der Wahl auf den ersten Blick so stabil wie seit Jahren nicht mehr. Zwar ist die Stadt immer noch ein Moloch voller Sprengschutzwälle und schwerbewaffneter Soldaten. Doch in Vierteln wie Mansour oder Karada sind längst moderne Shoppingmalls und Cafés entstanden, wo vor allem junge Irakerinnen und Iraker ihre neue Freiheit genießen.
Lange Zeit war das nämlich alles andere als selbstverständlich. „Als ich ein Kind war, konnten wir kaum raus. Es war viel zu gefährlich, immer wieder gab es Anschläge und Mordkommandos“sagt Aya al Hakim. Die 23-Jährige ist eigentlich Innendesignerin, arbeitet aber bei Riwaq, einem der wenigen unabhängigen Think Tanks in Bagdad. Gerade hat Al Hakim mit ihrer Denkfabrik eine App entwickelt, die
den Bürgern bei der Wahlentscheidung helfen sollte. Dafür hat sie mit ihrem Team für sämtliche Kandidaten im Land ein Profil erstellt. Al Hakim glaubt nicht, dass der Irak wieder in alte, finstere Muster zurückfallen wird: „Meine Generation hat genug Blut gesehen. Wir wollen nicht mehr als Sunniten oder Schiiten gelten, sondern als Bürger mit denselben Rechten und Pflichten.“
Es war vor allem der Kampf gegen den IS, der im Irak offenbar bei vielen für ein Umdenken gesorgt hat. „Der IS war so brutal, dass sich sogar jene Sunniten, die die Terrorgruppe anfangs unterstützten, von ihr lossagten“, sagt Abbas al Anburi, der Leiter von Riwaq. Als die Islamisten 2014 vor den Toren Bagdads standen, hätten viele Irakerinnen und Iraker erkannt, dass es so nicht mehr weitergehen könne. „Auch wenn die Gesellschaft immer noch gespalten ist, hat das doch einiges bewirkt. Inzwischen verzichten sogar viele der alten, konfessionell orientierten Parteien auf sektiererische Rhetorik.“Eine davon ist die Hikmeh-Partei. Ihr Hauptquartier liegt
unter einer der unzähligen Autobahnbrücken, die den schlammfarbenen Fluss Tigris überspannen. Ein paar Tage vor den Wahlen erklärt der Wahlkampfleiter, der anonym bleiben will, wie seine Formation den Weg in die Moderne gefunden hat: von der religiösen, schiitisch dominierten Widerstandsgruppe gegen die brutale Diktatur Saddam Husseins, über die von konfessionellem Blutvergießen geprägte Ära nach dem amerikanischen Einmarsch im Jahr 2003 bis heute. „Die Zeiten ändern sich“, sagt er. „Wir können keine rein konfessionelle Politik mehr machen. Das wird dem Irak von heute nicht mehr gerecht.“
Früher war Hikmeh so organisiert, wie Parteien im Irak eben meist organisiert sind: Es gab einen charismatischen geistlichen Anführer, der die Marschrichtung vorgab, ein paar Kader, die sie umsetzten, und darunter das Fußvolk, das mit Versprechungen oder Geld bei Laune gehalten wurde. Inzwischen tritt Hikmeh modern auf, will auch in sunnitisch dominierten Regionen punkten und sich als säkulare Partei
präsentieren. Einfach, so gibt der Wahlkampfleiter zu, ist das aber nicht: 2018 bei den letzten Wahlen holte Hikmeh keinen Sitz. Dass es diesmal anders wird, wenn die offiziellen Ergebnisse bekannt sind, ist unwahrscheinlich.
Um die Gründe zu verstehen, muss man ins Kernland der schiitischen Irakerinnen und Iraker fahren. In die Städte Kerbala und Najaf, wo die wie Heilige verehrten Imame Hussein und Ali begraben liegen. Millionen Pilgerinnen und Pilger kommen jedes Jahr hierher, um in den prunkvollen Schreinen zu beten. Doch lange war ihnen das nur im begrenzten Maße möglich. Denn unter Saddam Hussein, dem sunnitischen Diktator, der den Irak bis zur US-Invasion über zwei Jahrzehnte mit eiserner Faust regierte, wurden die Schiiten unterdrückt. Dabei stellen sie eigentlich die Bevölkerungsmehrheit im Land.
Die USA hatten den Irak-Krieg Anfang des Jahrtausends mit einer drohenden Gefahr von Massenvernichtungswaffen aus dem Irak begründet – und mit Verbindungen des Saddam-Lands zum Terrornetzwerk Al Quaida. Diese angegebenen Kriegsgründe sind international bis heute umstritten.
Nach dem Sturz des Despoten Hussein kehrten sich die Machtverhältnisse um. Seither sind die Schiiten die Herren im Irak – und mit ihnen die schiitischen Iraner, die enorm an Einfluss gewannen. So waren es maßgeblich die von Teheran unterstützten, sogenannten Volksmobilisierungs-Milizen, die 2014 gegen den IS in die Schlacht zogen. Doch die Milizen, die damals den Irak vor dem Untergang retteten, sind längst zu einem Staat im Staat geworden. „Viele Gruppen haben sich der staatlichen Kontrolle entzogen“sagt der Politologe Al Anburi. „Sie verfügen über Waffen und in manchen Fällen auch über Unterstützung aus dem Ausland.“Manche von ihnen, wie die iranisch gesteuerte Kataeb Hisbollah, kandidierten nun sogar für das Parlament.
Bei den entmachteten Sunniten führt das zu tiefer Bitterkeit. „Wir werden behandelt wie Bürger zweiter Klasse. Bis heute halten die schiitischen Milizen unsere Städte besetzt, obwohl der IS längst geschlagen ist“, beschwert sich Thafir Al Anei, ein altgedienter Parlamentsabgeordneter, der seinen Sitz seit 2006 hält. In seinem sunnitisch dominierten Wahlkreis im Norden Bagdads würde kaum jemand eine Schiitenpartei wie die Hikmeh wählen. Auch könne er keineswegs ausschließen, dass radikale Gruppen wie der IS nicht wieder Fuß fassen. „Die Stimmung ist am Kochen. Wir erleben gerade die Ruhe vor dem Sturm.“
Die mächtigen Milizen stoßen aber auch im eigenen Lager auf immer mehr Widerstand. So waren es vor zwei Jahren vor allem viele junge Schiiten gewesen, die auf die Straße gegangen waren, um gegen die Zustände im Land zu protestieren. Aber auch gegen den Einfluss des Iran, der hier von immer mehr Menschen als Besatzungsmacht gesehen wird. Dass die iranischen Milizen darauf mit einer Mordkampagne gegen Aktivisten, Rebellinnen und Andersdenkende reagierten, hat die Wut nur noch verstärkt.
Doch hinter dem Frust verbergen sich noch ganz andere Probleme. So ist der Irak mit seinen Ölvorkommen eigentlich ein reiches Land. In Bagdad sieht man das überall: Auf den Straßen fahren teure SUV, es gibt schicke Restaurants und an den Rändern der Stadt werden riesige Wohnanlagen hochgezogen. Gleichzeitig ist der Staat korrupt und immer mehr junge Leute finden keine Arbeit. So sind viele Taxifahrer in Bagdad Ex-Studierende, die auf dem von einem aufgeblähten Beamtenapparat beherrschten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Entsprechend wütend sind sie: „Was interessieren mich die Wahlen? Es sind doch sowieso alles die gleichen Leute, die da antreten, Diebe und Mörder“, sagt Rasheed, der Zahnarzt werden wollte, sich jetzt aber für den Fahrdienst Careem durch das Verkehrschaos quälen muss.
Die Perspektivlosigkeit und die schlechte Wirtschaftslage führen bei den Menschen im Irak zu Demokratieverdruss. So fällt die Wahlbeteiligung stetig, und manche der neuen Oppositionsgruppen, die sich nach den Protesten vor zwei Jahren gebildet hatten, boykottieren den Urnengang komplett: „Unsere Aktivisten werden von Milizen ermordet“, sagt Hashim al Mauzani von der Protestgruppe Bait al Watani. „Solange die Regierung dagegen nichts unternimmt, werden wir nicht antreten.“
Er will als Jüngster ins Parlament
Andere flüchten sich in Fatalismus oder Nostalgie – so wie jener junge Mann, der in einer heruntergekommenen Hotelbar hoch über dem Tigris sitzt: „Unter Saddam Hussein“, sagt er, „war alles besser. Damals herrschte wenigstens Ordnung.“Dabei war es doch gerade der Diktator selbst gewesen, der mit seinen Kriegen einst den Niedergang des Irak eingeleitet hatte.
Manche, wie Amir al Habubi, wollen trotzdem nicht aufgeben. Zwei Tage vor der Wahl sitzt der 28-Jährige in einem Schnellrestaurant im Norden von Bagdad. Er ist müde. Trotzdem hantiert er während des Gesprächs die ganze Zeit mit drei Handys gleichzeitig. Denn Al Habubi will ins Parlament – als jüngster Abgeordneter überhaupt. Ob er es geschafft hat, werden die nächsten Tage zeigen.
Al Habubi war ebenfalls bei den Protesten dabei und tritt jetzt als Unabhängiger auf der Liste einer säkularen Partei an. Er weiß, dass seine Chancen nicht gut stehen und auch, dass viele junge Leute dem Irak am liebsten den Rücken kehren wollen. Trotzdem macht er weiter. Warum? Er denkt nach, draußen ist es Nacht geworden. „Wenn wir dieses Land retten wollen“sagt er, „geht das nur durch Wahlen. Denn egal wie schlimm es ist – der Irak ist immerhin eine Demokratie.“