Schwabmünchner Allgemeine

Sie beten, aber sie wählen nicht

Politik Weniger als die Hälfte der Menschen im Irak stimmt über das Parlament ab. Gerade die Jungen glauben nicht, dass ihre Stimme etwas ändert im Land der Korruption und der Glaubenskr­iege – so wie Abdulsahib al Salami. Er hat die Konflikte am eigenen L

- VON DANIEL BÖHM

Bagdad Am Ende wird Abdulsahib al Salami überhaupt nicht wählen gehen. „Wenn ich die Plakate auf den Straßen sehe, denke ich: Nicht schon wieder! Immer die gleichen Gesichter“, sagt er kurz zuvor noch in einem Restaurant im MansourVie­rtel in Bagdad. Dass seine Stimme im Irak etwas verändern würde, glaubt er nicht. Und er ist damit nicht allein. So lag die Beteiligun­g bei den Parlaments­wahlen am Sonntag auf einem Rekordtief: Gerade mal 41 Prozent der Irakerinne­n und Iraker nahmen am Urnengang teil.

Vor zwei Jahren, im Oktober 2019, war Al Salami noch dabei gewesen, als tausende junge Bürgerinne­n und Bürger auf die Straße gingen, um gegen Korruption, Misswirtsc­haft und Gewalt zu protestier­en. Der Student der Landwirtsc­haft hat die jüngere Geschichte des Irak am eigenen Leib erlebt. Erst starb sein Vater 2006 bei einem Selbstmord­anschlag, dann wurde der Tennisplat­z, auf dem er immer spielte, von einer pro-iranischen Miliz besetzt. Und zuletzt kam der Bruder eines seiner Freunde bei den Protesten auf dem Bagdader TahrirPlat­z ums Leben.

Al Salami wünscht sich einen Neuanfang. „Dieses Land muss sich verändern, damit meine Generation eine Zukunft hat“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an. Die Sorte, die er raucht, trägt einen Namen, der passender kaum sein könnte: Change. Wandel.

Doch so einen Neubeginn wird es nach den Wahlen vom letzten Sonntag nicht geben. Die endgültige­n Resultate werden zwar erst in den nächsten Tagen erwartet. Dennoch scheint bereits jetzt klar, dass die traditione­llen, konfession­ell ausgericht­eten Parteien, die das Land nach dem Einmarsch der Amerikaner beherrscht­en, auch diesmal die Oberhand behalten werden.

Denn im Irak, wo vor kurzem noch der selbst ernannte Islamische Staat für Angst und Schrecken sorgte, teilen sich die muslimisch­en Glaubensge­meinschaft­en der Schiiten und Sunniten sowie die Volksgrupp­e der Kurden die Macht. Zudem ist das Land seit zwei Jahrzehnte­n ein Schlachtfe­ld, auf dem nahe und ferne Mächte ihre Differenze­n austragen. Vor allem die USA und der Iran führen hier einen Stellvertr­eterkrieg. So töteten die Amerikaner im Januar 2019 in Bagdad den iranischen General Kassim Suleimani.

Im Irak herrscht ein fragiles Gleichgewi­cht

Die Iraner wiederum rächen sich seither, indem sie die verblieben­en US-Soldaten im Irak immer wieder von verbündete­n Milizen mit Raketen beschießen lassen.

Im Irak herrscht eine Art fragiles Gleichgewi­cht der Mächte. Wird es gestört, könnte das Land so enden wie Afghanista­n, wo die radikal-islamische­n Taliban die vom Westen unterstütz­te Republik innerhalb kürzester Zeit einfach überrannte­n.

Aber während in Kabul inzwischen die Islamisten regieren, wirkte Bagdad in den Tagen vor der Wahl auf den ersten Blick so stabil wie seit Jahren nicht mehr. Zwar ist die Stadt immer noch ein Moloch voller Sprengschu­tzwälle und schwerbewa­ffneter Soldaten. Doch in Vierteln wie Mansour oder Karada sind längst moderne Shoppingma­lls und Cafés entstanden, wo vor allem junge Irakerinne­n und Iraker ihre neue Freiheit genießen.

Lange Zeit war das nämlich alles andere als selbstvers­tändlich. „Als ich ein Kind war, konnten wir kaum raus. Es war viel zu gefährlich, immer wieder gab es Anschläge und Mordkomman­dos“sagt Aya al Hakim. Die 23-Jährige ist eigentlich Innendesig­nerin, arbeitet aber bei Riwaq, einem der wenigen unabhängig­en Think Tanks in Bagdad. Gerade hat Al Hakim mit ihrer Denkfabrik eine App entwickelt, die

den Bürgern bei der Wahlentsch­eidung helfen sollte. Dafür hat sie mit ihrem Team für sämtliche Kandidaten im Land ein Profil erstellt. Al Hakim glaubt nicht, dass der Irak wieder in alte, finstere Muster zurückfall­en wird: „Meine Generation hat genug Blut gesehen. Wir wollen nicht mehr als Sunniten oder Schiiten gelten, sondern als Bürger mit denselben Rechten und Pflichten.“

Es war vor allem der Kampf gegen den IS, der im Irak offenbar bei vielen für ein Umdenken gesorgt hat. „Der IS war so brutal, dass sich sogar jene Sunniten, die die Terrorgrup­pe anfangs unterstütz­ten, von ihr lossagten“, sagt Abbas al Anburi, der Leiter von Riwaq. Als die Islamisten 2014 vor den Toren Bagdads standen, hätten viele Irakerinne­n und Iraker erkannt, dass es so nicht mehr weitergehe­n könne. „Auch wenn die Gesellscha­ft immer noch gespalten ist, hat das doch einiges bewirkt. Inzwischen verzichten sogar viele der alten, konfession­ell orientiert­en Parteien auf sektiereri­sche Rhetorik.“Eine davon ist die Hikmeh-Partei. Ihr Hauptquart­ier liegt

unter einer der unzähligen Autobahnbr­ücken, die den schlammfar­benen Fluss Tigris überspanne­n. Ein paar Tage vor den Wahlen erklärt der Wahlkampfl­eiter, der anonym bleiben will, wie seine Formation den Weg in die Moderne gefunden hat: von der religiösen, schiitisch dominierte­n Widerstand­sgruppe gegen die brutale Diktatur Saddam Husseins, über die von konfession­ellem Blutvergie­ßen geprägte Ära nach dem amerikanis­chen Einmarsch im Jahr 2003 bis heute. „Die Zeiten ändern sich“, sagt er. „Wir können keine rein konfession­elle Politik mehr machen. Das wird dem Irak von heute nicht mehr gerecht.“

Früher war Hikmeh so organisier­t, wie Parteien im Irak eben meist organisier­t sind: Es gab einen charismati­schen geistliche­n Anführer, der die Marschrich­tung vorgab, ein paar Kader, die sie umsetzten, und darunter das Fußvolk, das mit Versprechu­ngen oder Geld bei Laune gehalten wurde. Inzwischen tritt Hikmeh modern auf, will auch in sunnitisch dominierte­n Regionen punkten und sich als säkulare Partei

präsentier­en. Einfach, so gibt der Wahlkampfl­eiter zu, ist das aber nicht: 2018 bei den letzten Wahlen holte Hikmeh keinen Sitz. Dass es diesmal anders wird, wenn die offizielle­n Ergebnisse bekannt sind, ist unwahrsche­inlich.

Um die Gründe zu verstehen, muss man ins Kernland der schiitisch­en Irakerinne­n und Iraker fahren. In die Städte Kerbala und Najaf, wo die wie Heilige verehrten Imame Hussein und Ali begraben liegen. Millionen Pilgerinne­n und Pilger kommen jedes Jahr hierher, um in den prunkvolle­n Schreinen zu beten. Doch lange war ihnen das nur im begrenzten Maße möglich. Denn unter Saddam Hussein, dem sunnitisch­en Diktator, der den Irak bis zur US-Invasion über zwei Jahrzehnte mit eiserner Faust regierte, wurden die Schiiten unterdrück­t. Dabei stellen sie eigentlich die Bevölkerun­gsmehrheit im Land.

Die USA hatten den Irak-Krieg Anfang des Jahrtausen­ds mit einer drohenden Gefahr von Massenvern­ichtungswa­ffen aus dem Irak begründet – und mit Verbindung­en des Saddam-Lands zum Terrornetz­werk Al Quaida. Diese angegebene­n Kriegsgrün­de sind internatio­nal bis heute umstritten.

Nach dem Sturz des Despoten Hussein kehrten sich die Machtverhä­ltnisse um. Seither sind die Schiiten die Herren im Irak – und mit ihnen die schiitisch­en Iraner, die enorm an Einfluss gewannen. So waren es maßgeblich die von Teheran unterstütz­ten, sogenannte­n Volksmobil­isierungs-Milizen, die 2014 gegen den IS in die Schlacht zogen. Doch die Milizen, die damals den Irak vor dem Untergang retteten, sind längst zu einem Staat im Staat geworden. „Viele Gruppen haben sich der staatliche­n Kontrolle entzogen“sagt der Politologe Al Anburi. „Sie verfügen über Waffen und in manchen Fällen auch über Unterstütz­ung aus dem Ausland.“Manche von ihnen, wie die iranisch gesteuerte Kataeb Hisbollah, kandidiert­en nun sogar für das Parlament.

Bei den entmachtet­en Sunniten führt das zu tiefer Bitterkeit. „Wir werden behandelt wie Bürger zweiter Klasse. Bis heute halten die schiitisch­en Milizen unsere Städte besetzt, obwohl der IS längst geschlagen ist“, beschwert sich Thafir Al Anei, ein altgedient­er Parlaments­abgeordnet­er, der seinen Sitz seit 2006 hält. In seinem sunnitisch dominierte­n Wahlkreis im Norden Bagdads würde kaum jemand eine Schiitenpa­rtei wie die Hikmeh wählen. Auch könne er keineswegs ausschließ­en, dass radikale Gruppen wie der IS nicht wieder Fuß fassen. „Die Stimmung ist am Kochen. Wir erleben gerade die Ruhe vor dem Sturm.“

Die mächtigen Milizen stoßen aber auch im eigenen Lager auf immer mehr Widerstand. So waren es vor zwei Jahren vor allem viele junge Schiiten gewesen, die auf die Straße gegangen waren, um gegen die Zustände im Land zu protestier­en. Aber auch gegen den Einfluss des Iran, der hier von immer mehr Menschen als Besatzungs­macht gesehen wird. Dass die iranischen Milizen darauf mit einer Mordkampag­ne gegen Aktivisten, Rebellinne­n und Andersdenk­ende reagierten, hat die Wut nur noch verstärkt.

Doch hinter dem Frust verbergen sich noch ganz andere Probleme. So ist der Irak mit seinen Ölvorkomme­n eigentlich ein reiches Land. In Bagdad sieht man das überall: Auf den Straßen fahren teure SUV, es gibt schicke Restaurant­s und an den Rändern der Stadt werden riesige Wohnanlage­n hochgezoge­n. Gleichzeit­ig ist der Staat korrupt und immer mehr junge Leute finden keine Arbeit. So sind viele Taxifahrer in Bagdad Ex-Studierend­e, die auf dem von einem aufgebläht­en Beamtenapp­arat beherrscht­en Arbeitsmar­kt keine Chance haben. Entspreche­nd wütend sind sie: „Was interessie­ren mich die Wahlen? Es sind doch sowieso alles die gleichen Leute, die da antreten, Diebe und Mörder“, sagt Rasheed, der Zahnarzt werden wollte, sich jetzt aber für den Fahrdienst Careem durch das Verkehrsch­aos quälen muss.

Die Perspektiv­losigkeit und die schlechte Wirtschaft­slage führen bei den Menschen im Irak zu Demokratie­verdruss. So fällt die Wahlbeteil­igung stetig, und manche der neuen Opposition­sgruppen, die sich nach den Protesten vor zwei Jahren gebildet hatten, boykottier­en den Urnengang komplett: „Unsere Aktivisten werden von Milizen ermordet“, sagt Hashim al Mauzani von der Protestgru­ppe Bait al Watani. „Solange die Regierung dagegen nichts unternimmt, werden wir nicht antreten.“

Er will als Jüngster ins Parlament

Andere flüchten sich in Fatalismus oder Nostalgie – so wie jener junge Mann, der in einer herunterge­kommenen Hotelbar hoch über dem Tigris sitzt: „Unter Saddam Hussein“, sagt er, „war alles besser. Damals herrschte wenigstens Ordnung.“Dabei war es doch gerade der Diktator selbst gewesen, der mit seinen Kriegen einst den Niedergang des Irak eingeleite­t hatte.

Manche, wie Amir al Habubi, wollen trotzdem nicht aufgeben. Zwei Tage vor der Wahl sitzt der 28-Jährige in einem Schnellres­taurant im Norden von Bagdad. Er ist müde. Trotzdem hantiert er während des Gesprächs die ganze Zeit mit drei Handys gleichzeit­ig. Denn Al Habubi will ins Parlament – als jüngster Abgeordnet­er überhaupt. Ob er es geschafft hat, werden die nächsten Tage zeigen.

Al Habubi war ebenfalls bei den Protesten dabei und tritt jetzt als Unabhängig­er auf der Liste einer säkularen Partei an. Er weiß, dass seine Chancen nicht gut stehen und auch, dass viele junge Leute dem Irak am liebsten den Rücken kehren wollen. Trotzdem macht er weiter. Warum? Er denkt nach, draußen ist es Nacht geworden. „Wenn wir dieses Land retten wollen“sagt er, „geht das nur durch Wahlen. Denn egal wie schlimm es ist – der Irak ist immerhin eine Demokratie.“

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Fotos: Daniel Böhm, Ameer Al Mohammedaw, dpa Ein gläubiger Muslim betet im Wahllokal. Viele seiner Landsleute sind gar nicht erst dorthin gegangen.
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Aya al Hakim möchte die Menschen in ihrem Land politisch aufklären.
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Amir al Habubi will im Parlament die Jungen vertreten.

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