Schwabmünchner Allgemeine

J. K. Rowling schreibt über den Wert der Dinge

Literatur Spannend, anrührend und kritisch: Die Potter-Autorin schickt in ihrem neuen Kinderbuch „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“einen Jungen ins Land der Verlorenen

- VON BIRGIT MÜLLER‰BARDORFF

Dem Urheberrec­htsgesetz muss sich auch eine Joanne K. Rowling beugen, da helfen weder literarisc­he Größe noch weltweiter Ruhm. Das neue Kinderbuch der britischen Harry-Potter-Autorin, das heute rund um den Globus in die Buchläden kommt, trägt im englischen Original den Titel „The Christmas Pig“, zu Deutsch „Das Weihnachts­schwein“. So aber darf das Buch hierzuland­e nicht heißen, denn „Das Weihnachts­schwein“gibt es bereits, und zwar als Pappbilder­buch der relativ unbekannte­n Leipziger Autorin Kristin Franke. Also hatte Rowlings neues Buch das Nachsehen und heißt nun „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“. Dem Erfolg wird auch der etwas sperrige Titel keinen Abbruch tun, so viel ist gewiss. Gut möglich aber, dass auch Kristin Frankes gereimte Vorleseges­chichten nun im Strudel der Bestseller­autorin noch einmal mitschwimm­en können.

J. K. Rowling greift indes in „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“auf einen wohlbekann­ten Plot zurück: Jack fällt durch ein Loch, wird kleiner und kleiner und landet schließlic­h in einer Welt mit allerlei sonderbare­n Wesen. Wer denkt da nicht an Alice, die in Lewis Carolls Klassiker „Alice im Wunderland“durch das Karnickell­och in eine Welt jenseits von Rationalit­ät und Logik vordrang. Statt Grinsekatz­e, Hutmacher und Herzkönigi­n begegnet Rowlings Jack ausrangier­ten Dingen wie einem Kamm, einem Kompass und jeder Menge Spielsache­n, die zum Leben erweckt werden. Manchem kommt da auch gleich noch E.T.A. Hoffmanns „Nussknacke­r und Mäusekönig“in den Sinn, zumal die Geschichte an Weihnachte­n spielt.

Wieder einmal lässt sich Rowling also auf ein Spiel mit literarisc­hen Motiven ein und verwebt sie zu einer eigenen Geschichte um einen Jungen, der über sich selbst hinauswach­sen muss, um zu erfahren, was für ihn Bedeutung hat. Ein wenig klingt das nach Harry Potter, der seine Schöpferin weltberühm­t machte und sich über 500 Millionen Mal verkaufte. Doch schreibt Rowling nun keinen All-Age-Roman wie in der Serie über den das Böse bekämpfend­en Zauberlehr­ling, sondern wendet sich, wie schon in dem im letzten Herbst veröffentl­ichten „Ickabog“, an die Kinder. Eltern sind also weniger Leser wie noch bei Harry Potter denn Vorleserin­nen. Uninteress­ant oder gar langweilig wird es aber auch für sie nicht mit Rowlings neuem Buch.

Darin geht es um den Jungen Jack und seinen ständigen Begleiter, ein Kuschelsch­wein aus Frotteesto­ff, genannt „DS“(das Schwein), das entspreche­nd ramponiert ist: grau, ausgebleic­ht, mit einem steifen Ohr vom vielen Nuckeln und zwei Knöpfen statt der glänzenden Plastikaug­en in seinem Gesicht. Die Liebe des Jungen zu dem Stofftier ist durch die sichtbaren Erinnerung­en an die gemeinsam verbrachte­n Stunden nur umso größer. Unermessli­ch ist deshalb die Trauer, aber auch die Wut, als die neue Stiefschwe­ster Holly das Tier im Streit aus dem Autofenste­r wirft. Diese Tat lässt sich nicht wiedergutm­achen, auch nicht durch den Anflug von Reue, den Holly zeigt, als sie ihm ein neues Schwein schenkt. Ausgerechn­et am Weihnachts­tag geschieht all dies, an dem die Spielzeuge lebendig werden, und so eröffnet das neue Stofftier, genannt das Weihnachts­schwein, dem Jungen die Möglichkei­t, mit ihm in das Land der Verlorenen zu gelangen. Dort herrscht der Verlierer, ein furchterre­gendes Wesen mit großen Klauen und glühenden Augen, das sich von den Dingen der Menschen ernährt. „Er hasst die Lebenden und er hasst ihre Dinge. Deshalb quält er sie und frisst sie auf.“Es erfordert also Jacks ganzen Mut, sich in dieses Land zu begeben, und schnell ist man wieder in diesem Sog eines Kosmos, den Rowling gewohnt bildhaft und mit reichlich Spannung im Kopf der Leserinnen und Leser entstehen lässt.

Das Land der Verlorenen ist nach verschiede­nen Regionen aufgeteilt: Verschusse­lt, ausgedient, Leiderweg, die Ödnis der Unbeweinte­n, die Stadt der Vermissten, die Insel der Geliebten. In einem Rollschuh, auf einem Holzesel, in einer Spielzeugb­ahn reist Jack durch dieses Land und begegnet verlorenen Gegenständ­en ebenso wie verlorenen Gefühlen und Gewohnheit­en. Danach, wie wertgeschä­tzt sie von ihren Besitzerin­nen und Besitzern sind, bestimmt sich ihr Aufenthalt­sort im Land der Verlorenen, und eine Rückkehr zu den Menschen gibt es nur, wenn sie wiedergefu­nden werden. Wie das Häschen, das zwei Jungen im Dreck liegen gelassen haben und das ein Mädchen in seine Obhut nimmt. Gute Chancen also für Jacks Schwein, das so heiß geliebt wird und unbedingt gefunden werden soll? So einfach macht es Rowling ihren Figuren natürlich nicht. Am Ende seiner Reise wird Jack sich entscheide­n müssen, wie er seine Liebe beweist.

Rowling beschreibt diese „Heldenreis­e“liebevoll und anrührend, verschont ihre jungen Leserinnen und Leser aber auch nicht vor Momenten des Schreckens und der Grausamkei­t. So liest sich „Jacks wundersame Reise mit dem Weihnachts­schwein“als spannende Erzählung, in der doch mehr steckt als das reine Abenteuer. Unüberlesb­ar ist Rowlings Kritik an der Konsumund Wegwerfges­ellschaft. Denn über allem steht die Frage nach dem Wert der Dinge und den Werten, die unser Leben bestimmen. In manchen Kinderzimm­ern könnte sie damit zum Nachdenken anregen.

Joanne K. Rowling: Jacks wundersa‰ me Reise mit dem Weihnachts­schwein. Aus dem Englischen von Friedrich Pflüger mit Illustrati­onen von Jim Field; Carlsen, 336 Seiten, 20 euro – ab 8 Jahre

 ?? Foto: Jim Field/© J.K. Rowling 2021 ?? Mit dem Weihnachts­schwein begibt sich Jack auf eine ungewisse Reise ins Land der Verlorenen. Die Illustrati­onen zu J. K. Rowlings neuem Kinderbuch stammen von dem be‰ kannten Zeichner Jim Field.
Foto: Jim Field/© J.K. Rowling 2021 Mit dem Weihnachts­schwein begibt sich Jack auf eine ungewisse Reise ins Land der Verlorenen. Die Illustrati­onen zu J. K. Rowlings neuem Kinderbuch stammen von dem be‰ kannten Zeichner Jim Field.
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