Jack London: Der Seewolf (44)
IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.
ch konnte ihn mir nur immer lebend vorstellen, immer herrschend, kämpfend und vernichtend, alles überlebend.
Eine seiner Zerstreuungen war, wenn wir mitten in einer Robbenherde lagen und die See zu hoch ging, um die Boote niederzulassen, selbst mit zwei Pullern und einem Steurer hinauszugehen. Er war ein guter Schütze und erbeutete viele Felle unter Verhältnissen, die die Jäger einfach unmöglich nannten. Aber er schien gerade seine Freude daran zu finden, sein Leben auf diese Weise aufs Spiel zu setzen und gegen fast unüberwindliche Schwierigkeiten anzukämpfen.
Ich lernte immer mehr von der Navigation, und an einem schönen Tage – etwas, was uns jetzt selten begegnete – erlebte ich die Befriedigung, selbst die ,Ghost‘ führen, steuern und die Boote auflesen zu dürfen.
Wolf Larsen war von seinen Kopfschmerzen befallen, und so stand ich nun von morgens bis
abends am Rade, kreuzte über das Meer nach dem letzten Leeboot, legte bei und nahm dieses und die andern fünf auf, und das alles ohne Kommando oder Anweisung von dem Kapitän.
Hin und wieder wehte es steif, denn wir waren in eine stürmische Breite gekommen, und Mitte Juni erlebten wir einen Taifun, der sehr denkwürdig für mich und bedeutungsvoll für meine ganze Zukunft werden sollte. Wir wären fast von dem Zentrum des Wirbelsturms gepackt worden, und Wolf Larsen lief nach Süden davon, zuerst mit doppelt gerefftem Klüver und zuletzt mit gänzlich gestrichenen Segeln. Nie hatte ich gedacht, daß es so ungeheure Wogen geben könnte! Die Wellen, denen wir bisher begegnet waren, erschienen im Vergleich zu ihnen wie sanftes Gekräusel. Von Kamm zu Kamm maßen sie wohl eine halbe Meile, und ich bin fest überzeugt, daß sie unsern Topp überragten. So gewaltig waren sie, daß selbst Wolf Larsen nicht beizudrehen wagte, obgleich wir Gefahr liefen, weit nach Süden und aus den Robbengründen getrieben zu werden.
Wir mußten etwa bis in die Route der Transpazifik-Linie gekommen sein, und als der Taifun nachließ, befanden wir uns zur Überraschung der Jäger inmitten einer großen Robbenherde – einer Art Nachhut, wie sie erklärten, etwas sehr Seltenes. Aber die Folge war, daß den ganzen Tag die Büchsen knallten und die Tiere mitleidslos abgeschlachtet wurden.
Gegen Abend näherte Leach sich mir. Ich war gerade damit fertig, die Häute zu zählen, die das letzte Boot an Bord gebracht hatte, als er in der Dunkelheit neben mich trat und leise fragte:
„Herr van Weyden, können Sie mir sagen, wie weit wir von der Küste entfernt sind und in welcher Richtung Yokohama liegt?“
Mein Herz hüpfte vor Freude, denn ich wußte, was er vorhatte, und ich gab ihm die Richtung an: „500 Meilen West-Nord-West.“
„Danke!“Mehr sagte er nicht, und dann schlüpfte er wieder ins Dunkel zurück.
Am nächsten Morgen wurde Boot 3 mit Johnson und Leach vermißt. Gleichzeitig fehlten die Wasserfässer und Eßkisten aller andern Boote und Bettzeug und Seesäcke der beiden Männer. Wolf Larsen raste. Er setzte Segel und fuhr nach WestNord-West, immer zwei Jäger im Ausguck, während er selbst wie ein zorniger Löwe auf Deck auf und ab schritt. Er kannte meine Sympathie mit den Flüchtlingen zu gut, als daß er mich in den Ausguck geschickt hätte.
Der Wind war günstig, wenn auch unbeständig, aber mir schien, daß man ebensogut eine Stecknadel in einem Heuschober, wie das winzige Boot in dieser blauen Unendlichkeit hätte suchen können. Er holte jedoch alles aus der ,Ghost‘ heraus, um die Flüchtlinge vom Lande abzuschneiden, und als er das erreicht zu haben meinte, kreuzte er hin und her in der Überzeugung, irgendwo auf sie zu stoßen.
Am dritten Morgen, kurz vor acht, rief Smoke vom Mast herab, daß das Boot in Sicht sei. Alles stürzte an die Reling. Eine scharfe Brise wehte aus West, und es schien noch mehr Wind aufzukommen. Und dort, in Lee, in dem bewegten Silberschein der aufgehenden Sonne, kam und ging ein schwarzer Fleck.
Wir braßten vierkant und fuhren auf ihn zu. Mein Herz war schwer wie Blei. Schlimme Ahnungen machten mich krank, und als ich den Triumph in Wolf Larsens Augen schimmern sah, drehte sich alles vor mir, und ich fühlte den fast unwiderstehlichen Drang, mich auf ihn zu stürzen. Ich weiß, daß ich in halber Betäubung ins Zwischendeck schlüpfte und gerade mit einer geladenen Büchse in der Hand wieder hinaufsteigen wollte, als ich den erstaunten Ruf hörte:
„Es sind fünf Mann im Boot!“Schwach und zitternd lehnte ich mich an die Wand und hörte, wie Smokes Beobachtung jetzt von den andern bestätigt wurde. Dann versagten mir die Knie, und ich sank zu Boden. Ich war wieder zu mir gekommen, aber mich erschütterte das Bewußtsein dessen, was ich fast getan hätte. Mit großer Erleichterung stellte ich das Gewehr wieder an seinen Platz und schlich mich an Deck zurück. Niemand hatte meine Abwesenheit bemerkt. Das Boot war jetzt nahe genug, um uns erkennen zu lassen, daß es größer als die üblichen Robbenfängerboote und von einem andern Typ war. Als wir uns näherten, wurde das Segel eingeholt und der Mast umgelegt. Riemen kamen zum Vorschein, und die Leute warteten offenbar, daß wir beidrehen und sie an Bord nehmen sollten.
Smoke, der auf das Deck herabgestiegen war und jetzt neben mir stand, begann bedeutungsvoll zu kichern. Ich blickte ihn fragend an.
„Bunte Gesellschaft“, gluckste er. „Was ist los?“fragte ich. Er gluckste wieder. „Sehen Sie nicht, dort im Stern am Boden? Ich will nie wieder eine Robbe schießen, wenn das nicht eine Frau ist!“
Ich blickte näher hin, konnte jedoch nichts Genaues erkennen. Da ertönten von allen Seiten erstaunte Ausrufe. Im Boot befanden sich vier Männer, der fünfte Insasse aber war zweifellos eine Frau. Wir befanden uns in einer ungeheuren Aufregung – wir alle, außer Wolf Larsen, der offensichtlich enttäuscht war, daß er nicht sein eigenes Boot mit den Opfern seiner Niedertracht vor sich hatte.
Wir holten den Außenklüver ein, brachten die Klüverschoot nach Luv, ließen das Großsegel flach gehen und kamen in den Wind. Die Riemen senkten sich ins Wasser, und nach einigen Schlägen war das Boot längsseits. Jetzt erblickte ich die Frau zum erstenmal. Sie war in einen langen Überzieher gehüllt, denn der Morgen war rauh, und ich konnte nichts von ihr sehen als ihr Gesicht und eine Fülle hellbraunen Haares, das unter dem Südwester, den sie auf dem Kopfe trug, hervorquoll. Die Augen waren groß, braun und strahlend, der Mund sinnlich und das Antlitz selbst ein zartes Oval, das die Sonne und der salzige Wind jetzt allerdings rotgebrannt hatten.