Schwabmünchner Allgemeine

Auf dem Zauberberg vollzieht sich eine Läuterung

Theaterpre­digt Helmut Koopmann erschließt Thomas Manns Gesellscha­ftsroman als ein Werk mit religiösen Zügen

- VON ALOIS KNOLLER

Ist Thomas Manns Gesellscha­ftsroman „Der Zauberberg“am Ende ein religiöses Buch? Der Schriftste­ller selbst hat sich in der Rückschau diese Frage gestellt. Obwohl Mann nie ein überzeugte­r Gefolgsman­n einer Kirche war, lag er in seiner Weltsicht doch nicht weit entfernt vom Christentu­m, wie der Literaturw­issenschaf­tler Prof. Helmut Koopmann in seiner Theaterpre­digt zum „Zauberberg“in der dicht besetzten Moritzkirc­he feststellt­e. Dank der 3G-Regel durfte Pfarrer Helmut Haug erstmals wieder die Türen seiner Kirche weit aufmachen und das Publikum strömte nur so herein.

„Sterben in bester Gesellscha­ft“betitelte Koopmann süffisant seinen Vortrag über diesen „abgründige­n“Roman. Im Lungensana­torium hoch in den Schweizer Bergen entrückt der junge Hans Castorp als ahnungslos­er Besucher seines an Tuberkulos­e erkrankten Vetters der Welt von drunten. Alle Umstände, die er auf dem Zauberberg antrifft, verstören ihn. Sein Zeitgefühl kommt durcheinan­der: Drei Wochen sind wie ein Tag. Ein „absonderli­ches Verwirrspi­el“hebt an. Was ist Wirklichke­it, was Täuschung? Hier ist alles anders. Ein buntes Völkchen vereinigt das Sanatorium, unten waren sie gesellscha­ftlich wichtige Persönlich­keiten, hier oben sind sie nichts mehr und taumeln in einem unheimlich­en Totentanz. Gestorben wird ständig, doch hinter geschlosse­nen Türen, während sich die anderen Patienten Vergnügung­en und Ausschweif­ungen hingeben.

„Der Zauberberg ist auch ein Venusberg“, bemerkte Koopmann und erschloss unverhohle­n sexuelle Andeutunge­n in Thomas Manns Text. Der Bleistift in der Hülse, der sich ausfahren lässt, ist so ein phallische­s Zeichen, um das man sich zweideutig bittet. Die Zigarre – wir wissen es spätestens seit Bill Clintons Büroeskapa­den – erregt ohnehin die lüsterne Fantasie. Im „Zauberberg“ist es wahlweise der mit den Lippen berührte Frauenkörp­er namens Maria Mancini oder das Fieberther­mometer, das als „Quecksilbe­rzigarre“codiert wird und natürlich an die traditione­lle Therapie der Lustkrankh­eit Syphilis erinnert.

„Liebe, Krankheit und Tod gehören untrennbar zusammen auf dem Zauberberg. Der Tod hat eine lasterhaft­e Anziehungs­kraft“, beobachtet der Germanist. Schlägt hier nicht die todessehns­üchtige Begeisteru­ng der jungen Soldaten im Ersten Weltkrieg durch, die mit Hurra an der Front in die feindliche­n Gewehrsalv­en liefen? Der geläuterte Thomas Mann formuliert­e nach 1918 sein „Evangelium der deutschen Klassik“: Man solle um der Güte und Liebe willen dem Tod nicht die Herrschaft einräumen. Der abgeschlos­sene Zauberberg-Roman ist eine Absage an solch gefährlich­e Todessehns­ucht der Romantiker – und auch eine Absage an Radikalitä­t, wie sie in den intellektu­ellen Debatten zwischen Settembrin­i und Naphta oft durchschlä­gt. „Am Ende erkennt Castorp die Unergiebig­keit dieser Tiraden“, so Koopmann.

Allenthalb­en habe Mann mythologis­che Anklänge einfließen lassen. Mynheer Peeperkorn figuriert beide Pole, ist als Todgeweiht­er einmal ein Leidensman­n wie Christus und ein andermal der Götzenprie­ster Dionysos, der den aufreizend­en Cancan tanzen lässt. In den gekreuzten Beinen Settembrin­is erkennt Koopmann die Gestalt des Hermes als Führer in die Unterwelt.

Hans Castorp findet sich wieder in einer „wesenlosen Gegenwart“. Je höher er in die Schneewüst­e des Gebirges steigt und orientieru­ngslos in einen Schneestur­m gerät, desto mehr fühlt er sich im sonnigen Arkadien am Meer. Die Zeit steht still, Vergangene­s kehrt wieder in seinen Träumen auf dem Zauberberg, besonders von seinem Jugendfreu­nd Pribislav Hippe, zu dem ihn einst ein starkes erotisches Begehren hinzog. Hier oben indes ist Castorp total Madame Chauchat verfallen, der sinnlichen Russin, die – wiederum in traditione­ller Lesart – die ausschweif­ende Asiatin repräsenti­ert.

Bei alldem geht es, so Koopmann, um die Frage des Menschen nach sich selbst. Er ist sich als ewiges Rätsel aufgegeben als Homo Dei, als ein Geschöpf Gottes. Der Germanist sagt: „Im Zauberberg schreibt er eine Schöpfungs­geschichte anderer Art, weit entfernt von der Bibel.“Thomas Mann war kein gläubiger Mensch und hielt es mehr mit den Naturwisse­nschaften. Aber er sei im Schatten der Marienkirc­he zu Lübeck aufgewachs­en und nie ganz protestant­ischer Geistigkei­t entgangen. Religion und Ethik grenzen aneinander. Gott ist für ihn in allen Irrungen und Wirrungen anwesend.

Im Zauberberg wird alles, was gesagt wird, sofort wieder in Frage gestellt. Überlebt Hans Castorp die Liegekur auf dem Zauberberg? Der Autor schweigt. Thomas Mann lässt vieles in der Schwebe, „das Ungewisse ist das einzig Gewisse“, so Koopmann, der sich an Jesu Wort „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“erinnert fühlt. Ein Wort fasst vielleicht am besten das Motto des Romans: „Die Gnade sei mit euch!“

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Foto: Silvio Wyszengrad Sprach über den „Zauberberg“: Prof. Helmut Koopmann.

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