Im Notfall müssen die Meiler länger laufen
Leitartikel Der Ukraine-Krieg könnte längere Laufzeiten der letzten deutschen Atomkraftwerke nötig werden lassen. Die Überbrückung muss aber so kurz wie möglich sein.
Manchmal wirft die Realität alle politischen Pläne über Bord. Als sich nach dem 11. März 2011 die Reaktorblöcke in Fukushima in dampfende Ruinen verwandelten, machte die Regierung unter CDUKanzlerin Angela Merkel die eben beschlossene Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke rückgängig. Inzwischen aber tobt ein Krieg Russlands gegen die Ukraine, und die rot-grüngelbe Bundesregierung muss überlegen, ob sie die Laufzeiten noch einmal verlängert.
Die Antwort ist einfach. Falls der neue, zweite Strom-Stresstest der Netzbetreiber ergibt, dass die Meiler für die Stabilität des Netzes im Winter wichtig sind, führt an längeren Laufzeiten kein Weg vorbei. Ist das Netz auch ohne die Meiler stabil, sollte die Verlängerung unterbleiben. Bayern steht dabei unter besonderem Druck: Der Freistaat hat große Gaskraftwerke, aber kaum Kohlekraft, das letzte AKW Isar 2 soll eigentlich zum Jahresende abgeschaltet werden. Die Windkraft im Freistaat ist kaum ausgebaut, die großen Stromtrassen von Nord nach Süd kommen frühestens zum Ende des
Jahrzehnts.
Im Notfall müssen Grüne und SPD in der Ampel-Koalition über ihren Schatten springen. GrünenWirtschaftsminister Robert Habeck hat angedeutet, dass er dazu bereit wäre. Der Schaden eines denkbaren Blackouts wäre zu groß. Haushalte, Krankenhäuser, Schulen kann und will keiner ins Dunkle fallen lassen, auch wenn das Risiko beherrschbar erscheint: Ein erster Stresstest ergab im Frühling, dass das Netz im Winter stabil ist, die Versorger können zudem bei Bedarf
einzelne Großverbraucher anweisen, den Verbrauch zu senken.
Die einfachste Lösung einer Laufzeitverlängerung wäre ein Streckbetrieb bis ins nächste Frühjahr. Dabei würde mit den bisherigen Brennstäben weitergearbeitet werden. Im Sommer würde zwar weniger Strom produziert werden, dafür aber im Winter mehr. Dann also, wenn dieser knapp ist.
Schwieriger, aber effektiver wäre es, die Meiler noch einige Jahre in Betrieb zu halten. Neben den Gesetzesänderungen müssten die Betreiber Brennstäbe ordern, die über zehn Jahre alten Sicherheitsüberprüfungen erneuert werden, Personal muss neu organisiert werden. Derzeit stehen die Meiler allerdings nur für sechs Prozent der Stromversorgung in Deutschland. Das Potenzial, mit den AKW Gas zu sparen, halten Experten für begrenzt.
Was für ein stabiles Stromnetz nötig ist, müssen jetzt Fachleute entscheiden. Politisch aber muss ein Grundsatz gelten: Eine Laufzeitverlängerung muss so kurz wie möglich gehalten werden. Denn die gesamten Probleme der Kernkraft existieren heute genauso wie vor dem Unglück in Fukushima. Ein Restrisiko der atomaren Technik bleibt, so sicher die deutschen Kraftwerke auch betrieben werden mögen. Die Welt ist zu komplex, als dass sich die letzte Eventualität vorhersehen ließe. Unfälle in der zivilen Nutzung der Kernkraft sind selten, ihre Folgen aber desaströs, wie sich in Japan und in Tschernobyl gezeigt hat. Die Abfallstoffe der Nutzung sind hochgiftig, ihre Strahlung tödlich. Deutschland ist noch immer auf der Suche nach einem Endlager für Brennelemente.
Erst recht nicht in Betracht kommen darf der Wiedereinstieg in die Kernenergie, wie sie Wissenschaftler in ihrer „Stuttgarter Erklärung“gefordert haben. Der Neubau ist mit horrenden Kosten verbunden. Die Kraftwerke sind auch keine verlässlichen Energielieferanten, das zeigt sich in Frankreich. Deutschland hat mit seinen erneuerbaren Energien einen guten Kurs beschritten. Der Strom von Sonne und Wind trägt gerade jetzt viel zur Versorgung bei.
Die Risiken der Kernenergie sind nicht fort