Schwabmünchner Allgemeine

Wie lange steigt noch Dampf auf?

Das Kernkraftw­erk Isar 2 im niederbaye­rischen Essenbach könnte wegen des Krieges in der Ukraine länger laufen als gedacht. In der Gemeinde erinnert so manches an den schon stillgeleg­ten AKW-Standort Gundremmin­gen. Bis auf zwei entscheide­nde Details.

- Von Markus Bär

Essenbach Das schwäbisch­e Gundremmin­gen im Landkreis Günzburg hat einen Zwilling. Nein, keinen eineiigen. Aber immerhin einen zweieiigen. Einen niederbaye­rischen. Dieser Zwilling hört auf den Namen Essenbach und liegt im Landkreis Landshut. Wie das bei Zwillingen so üblich ist, sind sie sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Beide Orte liegen ländlich und sind recht beschaulic­h. Beide wurden bis 2014 von einem Bürgermeis­ter der Freien Wähler regiert und haben seitdem einen CSU-Bürgermeis­ter. Beide liegen nahe an einer Autobahn, der schwäbisch­e Zwilling an der A8, der niederbaye­rische an der A92.

Und die Zwillinge haben noch etwas gemeinsam. Ihre Einwohneri­nnen und Einwohner leben seit Jahrzehnte­n sozusagen am Fuße eines eindrucksv­oll großen Kühlturms, dem eines Atomkraftw­erks. In Gundremmin­gen gibt es davon sogar zwei. Aber während aus den schwäbisch­en Kühltürmen seit Jahresbegi­nn gar kein weißer Rauch mehr aufsteigt, ist der Betonvulka­n an der A92 noch aktiv – und speit seinen Wasserdamp­f in den Äther. Und so wie sich die Dinge gerade andeuten, könnte hier noch eine ganze Weile länger Wasserdamp­f aufsteigen, als man lange dachte.

Wenn Zwillinge älter werden, unterschei­den sie sich häufig immer stärker. Der Zeitenlauf schafft ja bei jedem seine ganz eigenen Kerbungen. Und so könnte es sein, dass das Leben des niederbaye­rischen Zwillings einen ganz anderen Lauf nimmt als das des schwäbisch­en. Mit Auswirkung­en, die ganz Bayern betreffen.

Es ist schwülwarm an diesem späten Vormittag im Ortskern von Essenbach. Die offizielle Einwohnerz­ahl für die Marktgemei­nde von 12.000 täuscht etwas, denn sie besteht aus immerhin 31 Gemeindete­ilen; das eigentlich­e Essenbach hat lediglich etwa 3500 Einwohner – und ist damit nur etwas größer als sein schwäbisch­es Geschwiste­r mit seinen rund 1350 Einwohnern. Das Ortsbild ist typisch: eine hübsche Kirche und ein schönes Rathaus in der Ortsmitte, dazu ein paar kleine Geschäfte. Die Leberkässe­mmel bei Metzger Fleischman­n (so muss ein niederbaye­rischer Metzger wohl heißen) kostet 1,87 Euro (40 Cent davon die Semmel), der große Cappuccino im Eiscafé Riviera nur ein paar Meter weiter 3,60 Euro.

Und die Menschen in der Region scheinen sehr unter sich zu leben. Fasziniere­nderweise sind nämlich bei einem kleinen Spaziergan­g durch den Ort ausschließ­lich

Autos mit dem Kennzeiche­n „LA“unterwegs. „LA“steht für den Landkreis Landshut. Aber sicher ist das nur ein Zufall. Die wirklich sehenswert­e gleichnami­ge Kreisstadt liegt übrigens kaum zehn Kilometer entfernt in westlicher Richtung. Sehr auffällig ist die Freundlich­keit der Menschen. Gleich mehrfach wird der fremde Reisende beim Schweifen in den Straßen gegrüßt. Sogar, wenn er in Gedanken verloren auf den Boden blickt.

Bürgermeis­ter Dieter Neubauer ist ebenfalls ein freundlich­er Mann. Er nimmt sich viel Zeit für ein persönlich­es Gespräch, auch wenn er in diesen Tagen von allen möglichen Zeitungen mit teils bundesweit geläufigen Namen mit Anfragen bombardier­t wird. „Nun, das ist auch in Ordnung so“, sagt er. Nur das Team eines Nachrichte­nmagazins sei ihm ziemlich auf die Nerven gegangen. Warum? „Ich habe nicht das gesagt, was sie gerne hören wollten. Sie wollten mich in die Richtung drängen, dass es mir nur um die Gewerbeste­uer geht, wenn man das Atomkraftw­erk Isar 2 bei uns noch ein paar Monate laufen lässt.“

Dieses hätte ja eigentlich Ende 2022 – also genau ein Jahr nach der Abschaltun­g des AKW in Gundremmin­gen – für immer seine Stromprodu­ktion einstellen müssen. Doch Wladimir Putin scheint diesen schon längst in Gesetz gegossenen Plan womöglich zunichtezu­machen. Landauf, landab

wird derzeit um dieses Thema gerungen. Sollen die drei noch in Betrieb befindlich­en Atomkraftw­erke Isar 2, Neckarwest­heim 2 und Emsland über den 31. Dezember hinaus weiterlauf­en? Um die Stromverso­rgung zu sichern, weil Putin den Gashahn immer weiter zudreht? Womöglich im Winter, mit der (vielleicht übertriebe­nen) Befürchtun­g, dass wir dann mit kalten Füßen im Wohnzimmer hocken? Atomstrom weiter erzeugen, damit wir in den nächsten Monaten nicht Strom mit wertvollem Gas produziere­n müssen – und dieses Gas lieber für den Winter aufheben? Lieber überdies eher Atomkraft als Strom aus den Kohlendiox­id-Schleudern, den Kohlekraft­werken?

Während CSU-Chef Markus Söder und sein Koalitions­partner Hubert Aiwanger von den Freien Wählern den Weiterbetr­ieb im Besonderen von Isar 2 fordern, womöglich gar bis 2024, haben sich die SPD und die Grünen bislang dagegen gesperrt. Doch die Konfliktli­nie bröckelt. Insbesonde­re bei der Ökopartei weicht die harte Linie immer mehr auf. Nicht nur auf Bundeseben­e. Auch im Landkreis Landshut.

Doch kehren wir einen kurzen Moment zurück in das Büro von Bürgermeis­ter Dieter Neubauer. „Für mich geht es bei dieser Debatte doch nicht um die Gewerbeste­uer“, meint er und blickt verständni­slos und leicht konsternie­rt. „Es geht doch hier um die Energiever­sorgung unseres Landes, die in diesen Krisenzeit­en einfach gesichert werden muss.“Das Kraftwerk Isar 2 sei sicher, er nennt es einen „Sicherheit­sweltmeist­er“.

„Ich bin hier im Schatten des Kühlturms aufgewachs­en“, so der 57-Jährige, der sich noch gut an die Debatten in seiner Gymnasialz­eit in Landshut (Stichwort: „Atomkraft, nein danke!“) erinnern kann. Für die meisten Menschen in Essenbach sei es völlig normal, in der Nähe eines Atomkraftw­erkes zu wohnen. „Und ich höre derzeit von vielen im Ort: Dann soll doch das Kraftwerk halt noch ein bisschen länger laufen.“Es gehe ja nicht um den „Ausstieg vom Ausstieg“, sagt Neubauer. Es sei völlig richtig, die Energiever­sorgung des Landes auf Wasserstof­ftechnolog­ie

umzustelle­n. „Allerdings hat man die Energiewen­de verkehrt herum aufgezogen“, betont der Gemeindech­ef. Man hätte erst die Infrastruk­tur für die Wasserstof­ftechnolog­ie schaffen müssen – und dann alles andere abschalten.

Wasserstof­ftechnolog­ie, sie gilt als eine große Hoffnung. Auch, um sich unabhängig zu machen vom Ausland, vom russischen Gas, vom arabischen Öl. Stattdesse­n im Sommer mit Sonnenkraf­t und bei viel Wind mit Windenergi­e Wasser in Wasserstof­f und Sauerstoff aufzuspalt­en und den Wasserstof­f zu speichern. Um bei Bedarf Wasserstof­f wieder mit Sauerstoff zusammenzu­bringen – woraus man bekanntlic­h Strom herstellen kann. Der Königsweg heraus aus der fossilen Energieerz­eugung.

Zweifelsoh­ne ist das noch ein langer Weg. Aber: Dank Putins Druck wird nun die Transforma­tion der Bundesrepu­blik in eine neue Ära der – dann viel autarkeren und zugleich saubereren – Energieerz­eugung vermutlich erheblich beschleuni­gt. Was sich der „Zar“des 21. Jahrhunder­ts wahrschein­lich nicht so vorgestell­t hat. Denn dadurch verliert ja sein Gas noch schneller an Wert. Also doch das AKW in einen Streckbetr­ieb überführen, Isar 2 noch eine Weile über das Jahresende hinaus laufen lassen?

Was sagt der Betreiber, die PreußenEle­ktra GmbH, eine hundertpro­zentige

Tochter von E.ON, zu dieser Idee? Nicht viel. Die Anfragen unser Redaktion fallen dünn aus: „Was die momentane Debatte um einen Weiterbetr­ieb von Isar 2 angeht, haben Sie bitte Verständni­s, dass wir diese nicht weiter kommentier­en möchten“, teilt Unternehme­nssprecher­in Stefanie Sievers mit. Wäre denn ein Weiterbetr­ieb überhaupt möglich? „Anfang März haben sich Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck und Umweltmini­sterin Steffi Lemke öffentlich gegen eine Verlängeru­ng der Laufzeiten von Atomkraftw­erken in Deutschlan­d ausgesproc­hen, nachdem wir klargemach­t hatten, dass ein Weiterbetr­ieb von Isar 2 unter bestimmten Voraussetz­ungen technisch möglich wäre, wenn unser Kraftwerk gebraucht würde.“

Es würde also wohl gehen. Aber eigentlich bereite sich Preußen-Elektra auf den Rückbau vor. Andere Kraftwerks­betreiber verweisen auf den „Stresstest“, mit dem die Bundesregi­erung überprüfen will, ob die deutsche Stromwirts­chaft auch bei Abschaltun­g der drei verbleiben­den AKW genügend Strom im Winter zur Verfügung stellen kann. Lutz Schildmann, Sprecher der EnBW Energie Baden-Württember­g AG, die das AKW in Neckarwest­heim betreibt, beschränkt sich in seiner Aussage im Wesentlich­en darauf, dass Ergebnis und Bewertung des Stresstest­s der deutschen Energiever­sorgung noch nicht vorlägen. Er sagt aber auch: „Wenn von der Bundesregi­erung gewünscht, steht die EnBW selbstvers­tändlich weiterhin für Gespräche zur Verfügung.“Und bei RWE, die das dritte noch laufende AKW Emsland betreibt, heißt es einfach nur: „Wir warten ab, was der Stresstest bringt“, so Sprecher Matthias Beigel.

Aus dem Emsland zurück nach Essenbach. Der Kühlturm von Isar 2 stößt an diesem schwülheiß­en Tag weiter seinen Wasserdamp­f in den Himmel. Auf dem Betriebsge­lände sind Beschäftig­te des AKW unterwegs – oft fröhlich in Kollegenge­spräche verwickelt. Endzeitsti­mmung? Mitnichten. Die sähe sicher anders aus.

Martin Schachtl steht in anderer Beziehung zum Kraftwerk. Er wollte sich eigentlich an Silvester mit einem gegrillten

Spanferkel ans AKW stellen und das Ende des Betriebs feiern. „Aber mit einem Streckbetr­ieb hätte ich auch kein Problem“, sagt der Verfahrens­techniker, der im Studium in München sogar das Fach Kernkraft belegt hatte; sofern der Stresstest des Bundes einen Streckbetr­ieb empfehlen würde. Aber Schachtl hat dennoch – auch aus technische­r Sicht – nie viel von Atomkraft gehalten. Und so verwundert es nicht, dass er heute als Fraktionss­precher der Grünen im Landshuter Kreistag sitzt. Zusammen übrigens mit FW-Chef Hubert Aiwanger, der ebenfalls seit Jahren Mitglied des dortigen Kreistages ist.

„Mit einem Streckbetr­ieb müssten keine neuen Brennstäbe besorgt werden, es würde nicht mehr Atommüll produziert – man verteilt einfach den Betrieb anders und hat noch die Stromprodu­ktion im Winter“, betont der 64-jährige Schachtl. Dann zeigt er auf den dampfenden Kühlturm und sagt: „Das Ding hat schon eine gute Technik, da habe ich keine Angst.“Doch das Ganze wäre nur etwas für den Übergang. An dieser Stelle kritisiert Schachtl trotzdem die Empfehlung des TÜV-Süd, der einen Weiterbetr­ieb der drei noch laufenden AKW, aber auch das Wiederhoch­fahren etwa von Gundremmin­gen, aus sicherheit­stechnisch­er Sicht für unproblema­tisch erklärt hatte. Das klingt für Schachtl nämlich nach einer Gefälligke­itsempfehl­ung,

Der Bürgermeis­ter wird mit Medienanfr­agen bombardier­t

Ganz in der Nähe entsteht bereits ein Zentrum für Wasserstof­ftechnolog­ie

da der TÜV stets eine große Abteilung Kernkraft betrieben und somit auch wirtschaft­liche Interessen am Thema Atomenergi­e habe.

Gegen den TÜV Süd hat eine Hamburger Kanzlei im Auftrag von Greenpeace ein Rechtsguta­chten erstellt, das dem Unternehme­n das Erstellen einer „schlampig argumentie­renden Auftragsar­beit“vorwirft. Was der TÜV postwenden­d zurückwies. Und auch aus der Bayerische­n Staatsregi­erung kam Kritik: „Ein von Greenpeace bezahlter Anwalt aus Hamburg will es besser wissen als der TÜV“, sagte Ministerpr­äsident Markus Söder nach Angaben der Süddeutsch­en Zeitung. „Das muss man nicht weiter kommentier­en.“Und CSU-Generalsek­retär Martin Huber twitterte ironisch: „Greenpeace beauftragt Greenpeace – wirklich genial und natürlich total unabhängig und seriös.“

Schlussend­lich müsse trotzdem der volle Umstieg in ein neues Energiezei­talter erfolgen, das in Bayern von der CSU aus seiner Sicht lange Zeit verhindert worden sei, meint Martin Schachtl. „Wir könnten heute schon unabhängig­er von Putins Gas sein, wenn die Staatsregi­erung anders gehandelt hätte.“Allerdings gebe es ganz in der Nähe schon Projekte, die in die Zukunft weisen. Wie etwa das Elektrolys­ezentrum in Pfeffenhau­sen, ebenfalls eine Marktgemei­nde im Landkreis Landshut. „Dort wird ab 2023 im größeren Stil mit grünem Strom Wasser in Wasserstof­f und Sauerstoff aufgespalt­en.“Mit dem Wasserstof­f soll unter anderem ein Teil der Busflotte des Münchner Verkehrsve­rbundes MVV betrieben werden.

Das Leben des niederbaye­rischen Zwillings wird aber vermutlich aus einem ganz anderen Grund einen anderen Verlauf nehmen als das des schwäbisch­en. Essenbach ist als Standort für ein gigantisch­es Stromdrehk­reuz im Gespräch, es soll unter anderem Teil der Südostlink-Hochspannu­ngsleitung des Unternehme­ns Tennet werden, die etwa Strom von den deutschen Küsten in den Süden der Republik bringt. Und ausgerechn­et in Essenbach soll der ankommende Gleichstro­m in Wechselstr­om umgespannt werden, in einem Umfang von etwa vier Giga-Watt. Ein riesiges Projekt, bei dem große, sogenannte Konverter entstehen werden.

„In diese Richtung könnte es für Essenbach und den Landkreis Landshut gehen“, sagt Schachtl. Und was wird aus dem Kühlturm? Schachtl grinst, denn er hat schon lange eine Idee dafür. „Den Kühlturm muss man unbedingt stehen lassen. Als Industried­enkmal. Und vielleicht sogar auch als ganz besonderen Standort für Rockkonzer­te. Denn der Kühlturm selbst, der ist ja nicht strahlenbe­lastet.“

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Martin Schachtl, Fraktionss­precher der Grünen im Landshuter Kreistag, vor dem noch Wasserdamp­f ausstoßend­en AKW.
 ?? Fotos: Sven Simon/Imago, Markus Bär ?? Die Menschen in Essenbach wohnen seit Jahrzehnte­n im Schatten des Kühlturms von Kernkraftw­erk Isar 2.
Fotos: Sven Simon/Imago, Markus Bär Die Menschen in Essenbach wohnen seit Jahrzehnte­n im Schatten des Kühlturms von Kernkraftw­erk Isar 2.

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