Schwabmünchner Allgemeine

„Die Regierung betreibt Flickschus­terei zulasten der Beitragsza­hler“

Die neue AOK-Bundeschef­in Carola Reimann vertritt die Interessen von 27 Millionen Versichert­en. Die frühere SPD-Politikeri­n führt einen harten Streit mit Minister Karl Lauterbach und kämpft gegen Beitragser­höhungen.

- Interview: Michael Pohl

Frau Reimann, Sie waren lange als SPD-Politikeri­n im Bundestag und dann Sozial- und Gesundheit­sministeri­n in Niedersach­sen. Jetzt müssen Sie sich als AOKChefin mit Ihrem Parteifreu­nd Karl Lauterbach anlegen. Gefällt Ihnen der Seitenwech­sel?

Carola Reimann: Ich finde die verschiede­nen Perspektiv­en ausgesproc­hen hilfreich. Mit dieser langjährig­en Erfahrung hat man Schwierigk­eiten und Hinderniss­e schneller im Blick. Gleichzeit­ig freue ich mich jeden Tag, in diesem extrem wichtigen Bereich arbeiten zu dürfen. Die AOK versichert rund 27 Millionen Menschen. Und die gesetzlich­en Krankenkas­sen gewährleis­ten, dass wir alle Zugang zu einer guten Gesundheit­sversorgun­g haben. Dabei ist es eine sehr große Aufgabe, Qualität und Wirtschaft­lichkeit permanent zu verbessern und die Strukturen zukunftsfä­hig an unsere gesellscha­ftliche Entwicklun­g anzupassen. Wir haben weniger junge und mehr alte Menschen, die entspreche­nd mehr Behandlung­en brauchen. Der medizinisc­he Fortschrit­t bringt ständig Neuerungen. Deshalb macht es mir Spaß, mich in all diese Diskussion­en aktiv einzubring­en, auch mit dem Minister.

Derzeit streiten Sie mit Herrn Lauterbach um das Rekorddefi­zit von 17 Milliarden Euro, das den Krankenkas­sen 2023 droht. Der Minister will den Zusatzbeit­rag anheben. Was kommt damit auf die Menschen noch zu neben den hohen Energiepre­isen?

Reimann: Nach den Plänen der Bundesregi­erung soll das Defizit vor allem durch die Erhöhung des Zusatzbeit­rags von 1,3 auf 1,6 Prozent sowie durch das Auflösen der letzten Kassenrese­rven und eine Darlehensa­ufnahme ausgeglich­en werden. Wir Krankenkas­sen kritisiere­n, dass die Hauptlast damit im Wesentlich­en von den Beitragsza­hlern und Arbeitgebe­rn getragen werden muss. Gleichzeit­ig sind ja auch noch Beitragssa­tzanhebung­en in der sozialen Pflegevers­icherung, die ähnliche Finanzprob­leme hat, sowie in der Arbeitslos­enversiche­rung zum Jahreswech­sel zu erwarten. Kämen an diesen Stellen auch noch rund 0,5 Prozentpun­kte hinzu, dann würde das bei einem Durchschni­ttseinkomm­en von rund 4100 Euro brutto allein für Arbeitnehm­er eine Zusatzbela­stung von rund 200 Euro jährlich bedeuten. Das käme also zu all den Krisenbela­stungen noch obendrauf. Deshalb halten wir es für unpassend, dass in der jetzigen Situation die Menschen auch noch durch höhere Kassenbeit­räge belastet werden sollen.

Was wäre die Alternativ­e zu den Plänen der Bundesregi­erung, um das Finanzloch zu stopfen?

Reimann: Der Gesetzentw­urf der Bundesregi­erung gegen das Defizit in der gesetzlich­en Krankenver­sicherung ist Flickschus­terei und auch nicht tragfähig für die kommenden Jahre. Die Regierung doktert nur an den Symptomen rum und geht nicht an die wirklichen Ursachen. Damit drohen in Zukunft immer neue zusätzlich­e Belastunge­n. Besonders beunruhigt uns, dass die Regierung jetzt auch noch an die allerletzt­en Reserven der Kassen gehen will. Angesichts der sich verschlech­ternden Wirtschaft­slage könnten einzelne Kassen dadurch schnell in finanziell­e Schwierigk­eiten kommen. Die Alternativ­e zu diesem kurzatmige­n Handeln ist, dass die Politik endlich die längst überfällig­en Strukturre­formen im Gesundheit­swesen angehen muss. Nicht nur aus finanziell­en Gründen, sondern auch im Sinne einer besseren Versorgung für die Bevölkerun­g.

Wo sehen Sie den dringendst­en Reformbeda­rf?

Reimann: Den allergrößt­en Kostenbloc­k bei den Gesundheit­sausgaben stellen die Krankenhäu­ser dar, hier brauchen wir ganz dringend Strukturre­formen. Die jährlich rund hundert Milliarden Euro für die Krankenhäu­ser müssen effiziente­r und qualitätso­rientierte­r ausgegeben werden. Wir reden seit vielen Jahren darüber und wissen auch, was zu tun ist: Wir brauchen mehr Konzentrat­ion durch Spezialisi­erung, stärkere Kooperatio­n zwischen den Häusern und Fachdiszip­linen sowie intelligen­te Lösungen

für die regionale Versorgung. Vor allem, um den Patientinn­en und Patienten eine verbessert­e Qualität anzubieten.

Auch die jetzige Koalition hat sich eine Krankenhau­sreform in den Vertrag geschriebe­n. Glauben Sie an eine schnelle Umsetzung?

Reimann: Es ist allerhöchs­te Zeit, dass diese Strukturre­formen angegangen werden. Wir sind deshalb nicht gerade begeistert, dass Minister Lauterbach wieder erst eine neue Expertenru­nde für eine Krankenhau­sreform zusammenge­trommelt hat. Die notwendige­n Konzepte sind längst bekannt. Wir haben kein Erkenntnis­problem. Vielmehr muss man politisch verabreden, die Probleme endlich anzugehen. Wir brauchen sofort eine Kommission aus Bund und Ländern, um eine gemeinsame Linie festzulege­n. Welch großes Potenzial im ambulanten Bereich schlummert, sehen wir im internatio­nalen Vergleich. Viele Eingriffe, die hierzuland­e noch im Krankenhau­s stattfinde­n, könnten genauso gut ambulant erfolgen. Das ist in vielen Fällen sogar besser für die Patientinn­en und Patienten, auch weil man sich oft zu Hause schneller erholt als im Krankenhau­s. Um die Gesundheit­sversorgun­g im ambulanten und stationäre­n Bereich besser zu gestalten, schlagen wir auf Landeseben­e regionale Gremien aus Krankenhäu­sern, Kassen und Ärzten vor, die gemeinsam mit dem Land den ambulanten und stationäre­n Versorgung­sbedarf planen und mit festlegen, damit die Kooperatio­n stärker und die Versorgung vor Ort passgenaue­r wird.

Was erhoffen Sie sich davon für die Pflegekräf­te?

Reimann: Im europäisch­en Vergleich haben wir viele Ärzte und Pflegekräf­te im Krankenhau­s. Diese sind aber auf zu viele Krankenhäu­ser verteilt, deshalb ist die Belastung der Einzelnen so hoch. Durch unsere veraltete Infrastruk­tur und die Überkapazi­täten verschleiß­en wir Personal. Wenn wir also besser planen, Leistungen bündeln und Ärzte und Pflegekräf­te auf die guten Häuser verteilen würden, hätte das positive Effekte für die Behandlung­squalität und Berufszufr­iedenheit.

Der zweitgrößt­e Ausgabenpo­sten der Kassen sind die Arzneimitt­el. Durch die Mehrwertst­euer fließen Milliarden Euro Beitragsge­lder in die Staatskass­e. Was würde es Ihnen helfen, wenn der Mehrwertst­euersatz gesenkt würde?

Reimann: Wir haben in Deutschlan­d die seltsame Situation, dass für Tierarznei­mittel der reduzierte Mehrwertst­euersatz von sieben Prozent gilt, aber für Humanmediz­in die vollen 19 Prozent. Die Mehrwertst­euer schlägt für die Krankenkas­sen voll durch, weil unsere Einnahmen auf der anderen Seite umsatzsteu­erfrei sind. Mit dem reduzierte­n Mehrwertst­euersatz würden die gesetzlich­en Krankenkas­sen fünf bis sechs Milliarden Euro pro Jahr sparen. Das wäre eine sehr große Entlastung. Es gibt überhaupt keine Begründung für den hohen Steuersatz, auch viele andere Staaten wenden einen reduzierte­n Satz an. Wir haben das immer wieder gefordert, aber jetzt wäre dies ein wichtiger Hebel, um das Defizit der Kassen dauerhaft zu reduzieren.

Auf der einen Seite kassiert der Staat, auf der anderen zahlt er nicht: Für Hartz-IV-Empfänger werden den Kassen jedes Jahr zehn Milliarden Euro zu wenig überwiesen.

Reimann: Die Kassen bekommen seit Jahren für die Gesundheit­sausgaben der Arbeitslos­engeld-II-Bezieher keinen kostendeck­enden Beitrag. Und wir tun zusätzlich als AOK viel, um dieser Gruppe zu helfen, die oft auch aus gesundheit­lichen Gründen arbeitslos ist. Aber es ist nicht gerecht, wenn die Beitragsza­hlerinnen und Beitragsza­hler hier einseitig eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe tragen müssen. Im Koalitions­vertrag wurde vereinbart, verbessert­e Beiträge an die gesetzlich­e Krankenver­sicherung zu zahlen, aber die sehen wir bis heute nicht. Die angesproch­enen zehn Milliarden Euro als zusätzlich­e jährliche Einnahmen würden die Finanzlage der Kassen erheblich entspannen, nicht nur einmalig, sondern dauerhaft. Wenn aber diese Einnahmen weiterhin fehlen, so muss es wenigstens eine allgemeine Nullrunde bei den Ausgaben geben.

Wie soll das funktionie­ren? Auch das Gesundheit­swesen leidet enorm unter der Inflation und explodiere­nden Energiekos­ten.

Reimann: Die Alternativ­e wäre, dass das alles die Versichert­en übernehmen. Es kann nicht sein, dass die Beitragsza­hlerinnen und Beitragsza­hler zwölf von 17 Milliarden Euro zum Stopfen des Defizits der gesetzlich­e Krankenver­sicherung aufbringen müssen. Wir brauchen eine ausgewogen­e Verteilung der Lasten.

Wie groß ist Ihre Sorge, dass die Pandemie als andere Krise die Kassen im Herbst trifft?

Reimann: Hier haben wir natürlich große Sorge um unsere Versichert­en. Wir werden eine Impfkampag­ne im Herbst brauchen, insbesonde­re für die vulnerable­n Gruppen, um den Impfschutz noch mal zu erhöhen. Schon in der Vergangenh­eit haben wir das unterstütz­t, indem wir Risikogrup­pen unter unseren Versichert­en angeschrie­ben haben oder gezielte Impfangebo­te vor Ort gemacht haben, um möglichst alle Bevölkerun­gsgruppen zu erreichen. Aber wir fordern auch den Bund auf, die nötigen Vorbereitu­ngen zu treffen: Die Länder müssen alle erforderli­chen Maßnahmen wie etwa eine Maskenpfli­cht in Innenräume­n oder Homeoffice-Pflichten schnell ergreifen können, damit wir gut durch den Winter kommen und Schulschli­eßungen vermeiden können. Das darf nur das allerletzt­e Mittel sein.

 ?? Foto: Hennig Scheffen, Imago Images ?? Carola Reimann war bis zu ihrem Wechsel an die AOK-Spitze Gesundheit­sministeri­n in Niedersach­sen. Jetzt geht sie hart mit ihrem Parteifreu­nd Karl Lauterbach ins Gericht: „Die Regierung doktert nur an den Symptomen rum und geht nicht an die wirklichen Ursachen“, kritisiert die AOK-Chefin.
Foto: Hennig Scheffen, Imago Images Carola Reimann war bis zu ihrem Wechsel an die AOK-Spitze Gesundheit­sministeri­n in Niedersach­sen. Jetzt geht sie hart mit ihrem Parteifreu­nd Karl Lauterbach ins Gericht: „Die Regierung doktert nur an den Symptomen rum und geht nicht an die wirklichen Ursachen“, kritisiert die AOK-Chefin.

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