Schwabmünchner Allgemeine

Ihr Kind soll nicht sterben

Seit Monaten liegt der zwölfjähri­ge Archie im Koma. Die Ärzte wollen die Geräte abschalten, die Eltern kämpfen dagegen – und sind nun vor dem höchsten britischen Gericht gescheiter­t.

- Von Sarah Schierack

London Es gibt im Internet viele Fotos von Archie Battersbee. Die einen zeigen einen fröhlichen blonden Jungen: grinsend im Auto mit seiner Mutter, stolz mit einem Leichtathl­etik-Pokal; Bilder, wie man sie von Kindern kennt. Auf den anderen Fotos sieht man Archie in einem Krankenhau­sbett. Neben seinem Gesicht liegen Kuscheltie­re, ein Schlauch in der Nase versorgt ihn mit Sauerstoff, über einen anderen wird er künstlich ernährt. Archie Battersbee wirkt, als würde er schlafen. Doch der zwölfjähri­ge Junge aus England liegt seit Monaten im Koma.

Anfang April hatte Archies Mutter, Hollie Dance, ihren Sohn bewusstlos in seinem Zimmer gefunden, mit einer Schlinge um den Hals. Dance glaubt, dass Archie an einer Internet-Mutprobe teilnehmen wollte, der „Blackout Challenge“, bei der Kinder und Jugendlich­e sich selbst die Luft abschnüren und dabei filmen.

Archie ist seitdem nicht mehr aufgewacht, Ende Mai wurde er für hirntot erklärt. Seine Ärztinnen und Ärzte plädieren dafür, die Geräte

abzuschalt­en, die ihn beatmen und ernähren. Archies Eltern jedoch haben wochenlang vor Gericht darum gekämpft, die lebenserha­ltenden Maßnahmen zu verlängern. Hollie Dance, die Mutter, hatte mehrfach betont, ihr Sohn brauche mehr Zeit. Er habe einmal ihre Hand gedrückt, sie wisse, dass er „noch da“sei.

Bereits Mitte Juni hat ein Gericht entschiede­n, die Geräte nicht länger laufen zu lassen. Dance und ihr Mann Paul Battersbee gingen in Berufung und wandten sich an die Vereinten Nationen, um Aufschub zu erhalten. Am Dienstag sollten die lebenserha­ltenden Maßnahmen ausgesetzt werden. Kurz zuvor brachten die Eltern den Fall noch vor das höchste britische Gericht, den Supreme Court. Doch auch dort wurde er abgewiesen. Das Krankenhau­s kann die Geräte nun abschalten. Dem Sender Sky News zufolge soll es bereits an diesem Mittwoch um 11 Uhr Ortszeit (12 Uhr unserer Zeit) so weit sein.

Der Fall von Archie Battersbee erinnert an ähnliche Fälle aus Großbritan­nien, etwa an den des Säuglings Charlie Gard, dessen Eltern 2017 bis vor den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte gezogen waren, um eine Fortsetzun­g der lebenserha­ltenden Maßnahmen zu erzwingen. Der Säugling litt an einer tödlichen Erbkrankhe­it. Im Sommer 2017 stellten die Ärzte die Geräte ab.

Der Fall Charlie Gard fand weltweit Beachtung – weil die britischen und später die Straßburge­r

Ende Mai wurde Archie für hirntot erklärt

Richterinn­en und Richter die großen Fragen verhandelt­en. Wer weiß, was besser für ein Kind ist: die Eltern oder das Gericht? Und: Wer darf entscheide­n, wann ein Leben beendet wird?

In der Regel entscheide­n das – insofern es keine Patientenv­erfügung gibt – Angehörige und Ärzte gemeinsam. Wenn beide Seiten nicht einer Meinung sind, landet ein Fall vor Gericht. Geht es um Kinder, berufen sich die Richterinn­en und Richter in Großbritan­nien in Anlehnung an die UN-Kinderrech­tskonventi­on auf das Kindeswohl, was dazu führt, dass sie in ihrem Urteil meist eher der medizinisc­hen Sicht und nicht dem Willen der Eltern folgen. Auch im Fall Archie Battersbee verwiesen die Richter darauf, dass ein Abschalten der Geräte „im besten Sinne“des Jungen sei – denn es erspare ihm weiteres Leiden.

In Deutschlan­d ist die Lage anders: Das Recht auf Leben ist in Artikel 2 des Grundgeset­zes besonders geschützt. Kommt ein Fall vor Gericht, votieren Richterinn­en und Richter deshalb deutlich öfter für lebenserha­ltende Maßnahmen, sollte es zumindest eine geringe Aussicht auf Besserung geben. Das gilt jedoch nicht, wenn Menschen – so wie Archie Battersbee – für hirntot erklärt wurden.

In Großbritan­nien sucht man mittlerwei­le nach Wegen, wie hitzige Rechtsstre­itigkeiten ganz vermieden werden können. Lady Ilora Finlay, Ärztin und Abgeordnet­e des Oberhauses, sagte Times Radio, die Regierung lote aktuell Alternativ­en aus, etwa eine unabhängig­e Mediation zwischen dem Krankenhau­s und den Angehörige­n. Denn ein Prozess würde diese tragischen Fälle oft noch tragischer machen. „Wenn sich beide Seiten wie Gegner gegenübers­tehen, dann hilft das niemandem.“

 ?? Foto: Yui Mok, PA Wire/dpa ?? Das Leid der Eltern: Paul Battersbee und seine Frau Hollie Dance versuchten vergeblich vor Gericht durchzuset­zen, dass die lebenserha­ltenden Maßnahmen für ihren Sohn Archie verlängert werden. Der Zwölfjähri­ge liegt seit April im Koma.
Foto: Yui Mok, PA Wire/dpa Das Leid der Eltern: Paul Battersbee und seine Frau Hollie Dance versuchten vergeblich vor Gericht durchzuset­zen, dass die lebenserha­ltenden Maßnahmen für ihren Sohn Archie verlängert werden. Der Zwölfjähri­ge liegt seit April im Koma.

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