Schwabmünchner Allgemeine

Eine Hölle namens Ingolstadt

Zuschauer, lass alle Hoffnung fahren: Die Salzburger Festspiele vermengen zwei Stücke von Marieluise Fleißer in ein dunkles Spiel über die Niedertrac­ht der Menschen. Aber warum spielt es ausgerechn­et in dieser Stadt?

- Von Richard Mayr

Salzburg Das Bühnenbild untertreib­t. Das Wasser, mit der die Bühne teils geflutet ist, reicht nur an die Knöchel, eigentlich steht es den Figuren aus Ingolstadt aber schon längst bis zum Hals. Zum Beispiel Olga, die schwanger ist, abtreiben sollte und wollte, aber keinen Arzt gefunden hat. Denn derjenige, der es bislang verbotener­weise gegen Geld gemacht hat, weigert sich nun. Oder aber Roelle, der so gerne etwas mit Olga anfangen würde, wissend, dass sie schwanger ist. Weil sie ihn abblitzen lässt, versucht er es mit Erpressung. Oder aber das Hausmädche­n Berta. Sie möchte einen richtigen Mann, lässt sich auf einen der Pioniere ein und irrt sich in ihm vollkommen.

Die Salzburger Festspiele haben in Kooperatio­n mit dem Wiener Burgtheate­r die beiden frühen Stücke von Marieluise Fleißer in einem Abend verschmolz­en: Aus „Fegefeuer in Ingolstadt“und „Pioniere in Ingolstadt“wird nun einfach „Ingolstadt“, ein BühnenIngo­lstadt, in dem kein Mensch wirklich leben möchte, weil es nur das Schlimmste, Schlechtes­te und Niederste aus den Menschen herausholt. Allerdings musste das Ensemble vor der Premiere bange Momente durchstehe­n. Die Premiere, ursprüngli­ch für den 27. Juli vorgesehen, musste wegen Corona-Fällen unter den Darsteller­innen und Darsteller­n auf den 1. August verschoben werden. Gespielt werden konnte nur, weil Max Ginndorf, Ernest Allan Hausmann und Bijan Zamani kurzfristi­g für die Erkrankten eingesprun­gen sind.

Regisseur Ivo van Hove, Bühnenbild­ner Jan Verweyveld und Kostümbild­ner An D’Huys haben Ingolstadt in eine Albtraum-Fantasiela­ndschaft verlegt, ein dunkler, nebliger Bühnensee mit kleinen Inselchen dazwischen. Die Wände verspiegel­t, das Publikum sieht sich selbst, ist Teil des Geschehens. Ingolstadt ist überall, an diesem Abend besonders auf der Perner-Insel in Hallein.

Dem Programmhe­ft ist zu entnehmen, dass es van Hove und seinem Team auch darum geht, Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“von Brechts politische­r Deutung zu befreien, wieder mehr von der Stimmung einzufange­n, die Fleißer ursprüngli­ch so wichtig war, die Brecht allerdings zugunsten politische­r Handlungse­lemente kurz vor der Uraufführu­ng streichen ließ. Eine Uraufführu­ng übrigens, die als Theaterska­ndal Marieluise Fleißer schwer belastet hat.

Geschickt sind die beiden Stücke verwoben, von Olga und Roelle wechselt es zu den Pionieren und zurück, organisch. Zu Beginn gelingt es auch noch, die Sehnsucht und das Verlangen von Olga (Marie-Luise Stockinger), Roelle (Jan Bülow), Berta (Lilith Häßle) und Alma (Dagna Litzenberg­er Vinet) anzudeuten, je länger dieser Abend jedoch dauert, desto grausamer, dunkler, brutaler wird es, leider.

Dieser Aspekt von Fleißers Stücken, der schonungsl­os die zwi

schenmensc­hlichen Machtverhä­ltnisse ausleuchte­t, kommt immer mehr zum Tragen. Wer im Vorteil ist, nutzt ihn aus, wer sich im Hintertref­fen befindet, muss leiden. So geht das Roelle bei Olga, die ihn zunehmend verachtet, oder Alma und Berta mit ihren Soldatenli­ebschaften. „Der Druck geht immer nach unten“, sagt der Feldwebel und verrät damit das Grundprinz­ip der Beziehungs­mechanik, die Fleißer in der viel zu engen Heimat durchbuchs­tabiert.

Ein gelungener Theaterabe­nd? Für chronische Schwarzseh­er möglicherw­eise. Zur zerstöreri­schen Energie, mit der jeder und jede Einzelne nicht geizt, kommen Gewaltexpl­osionen, sobald Gruppen in Erscheinun­g treten. Die Bierzeltsc­hunkelei „Schnaps, das war sein letztes Wort“, gemeinsam von allen geschmette­rt, klingt wie das Kampflied einer rasenden Horde. Wenn die Pioniere einen Ingolstädt­er zum Opfer bestimmen, um die Erniedrigu­ng, die sie als Soldaten erfahren, weiterzuge­ben, wird es dämonisch, flackern die kollektive­n Gewaltexze­sse der Nazi-Diktatur auf. Dass zu Beginn und am Ende das katholisch­e Glaubensbe­kenntnis gesprochen wird und Roelle behauptet, mit einem Engel in Kontakt zu stehen, nimmt die Religion ins Gewaltgesc­hehen mit hinein. Dort wartet nicht die Erlösung, sondern nur ein weiterer Unterdrück­ungsmechan­ismus.

Die Unterdrück­ung zum Beispiel der Sehnsucht in allen Figuren nach einem menschlich­eren Leben gelingt in dieser Inszenieru­ng zu gut. Spätestens zur Hälfte bietet diese Inszenieru­ng einfach nur noch mehr vom Gleichen, also mehr vom Bösen und sucht die Dosis zu steigern, bis zum Schluss Berta von ihrem Pionier vergewalti­gt wird.

Nicht nur das Publikum, auch das zum großen Teil junge Ensemble des Burgtheate­rs wird durch die Eindimensi­onalität des Geschehens unterforde­rt. In diesem Ingolstadt, in dieser Höllenwelt ist außer Bosheit und Misslingen nichts zu finden, es ist eine Bühnenwelt, mit der man schon vor dem Ende des Stücks nach knappen zweieinhal­b Stunden fertig ist. Statt bis zum Schluss in dieser Inszenieru­ng Widerstand gegen diese Entwicklun­g zu leisten, statt immer nach dem anderen, dem verdeckten und verschütte­ten Guten zu suchen, gibt sich dieser Abend in Salzburg geradezu rauschhaft der dunklen Seite des Menschen hin. Trotzdem langer Applaus und Bravorufe des Premierenp­ublikums.

 ?? Foto: Matthias Horn, apa, Salzburger Festspiele ?? Dagna Litzenberg­er Vinet (Alma), Marie-Luise Stockinger (Olga) und weitere Mitglieder des Ensembles stehen bei einer Probe des Stücks „Ingolstadt“auf der Bühne.
Foto: Matthias Horn, apa, Salzburger Festspiele Dagna Litzenberg­er Vinet (Alma), Marie-Luise Stockinger (Olga) und weitere Mitglieder des Ensembles stehen bei einer Probe des Stücks „Ingolstadt“auf der Bühne.

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