Eine Hölle namens Ingolstadt
Zuschauer, lass alle Hoffnung fahren: Die Salzburger Festspiele vermengen zwei Stücke von Marieluise Fleißer in ein dunkles Spiel über die Niedertracht der Menschen. Aber warum spielt es ausgerechnet in dieser Stadt?
Salzburg Das Bühnenbild untertreibt. Das Wasser, mit der die Bühne teils geflutet ist, reicht nur an die Knöchel, eigentlich steht es den Figuren aus Ingolstadt aber schon längst bis zum Hals. Zum Beispiel Olga, die schwanger ist, abtreiben sollte und wollte, aber keinen Arzt gefunden hat. Denn derjenige, der es bislang verbotenerweise gegen Geld gemacht hat, weigert sich nun. Oder aber Roelle, der so gerne etwas mit Olga anfangen würde, wissend, dass sie schwanger ist. Weil sie ihn abblitzen lässt, versucht er es mit Erpressung. Oder aber das Hausmädchen Berta. Sie möchte einen richtigen Mann, lässt sich auf einen der Pioniere ein und irrt sich in ihm vollkommen.
Die Salzburger Festspiele haben in Kooperation mit dem Wiener Burgtheater die beiden frühen Stücke von Marieluise Fleißer in einem Abend verschmolzen: Aus „Fegefeuer in Ingolstadt“und „Pioniere in Ingolstadt“wird nun einfach „Ingolstadt“, ein BühnenIngolstadt, in dem kein Mensch wirklich leben möchte, weil es nur das Schlimmste, Schlechteste und Niederste aus den Menschen herausholt. Allerdings musste das Ensemble vor der Premiere bange Momente durchstehen. Die Premiere, ursprünglich für den 27. Juli vorgesehen, musste wegen Corona-Fällen unter den Darstellerinnen und Darstellern auf den 1. August verschoben werden. Gespielt werden konnte nur, weil Max Ginndorf, Ernest Allan Hausmann und Bijan Zamani kurzfristig für die Erkrankten eingesprungen sind.
Regisseur Ivo van Hove, Bühnenbildner Jan Verweyveld und Kostümbildner An D’Huys haben Ingolstadt in eine Albtraum-Fantasielandschaft verlegt, ein dunkler, nebliger Bühnensee mit kleinen Inselchen dazwischen. Die Wände verspiegelt, das Publikum sieht sich selbst, ist Teil des Geschehens. Ingolstadt ist überall, an diesem Abend besonders auf der Perner-Insel in Hallein.
Dem Programmheft ist zu entnehmen, dass es van Hove und seinem Team auch darum geht, Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“von Brechts politischer Deutung zu befreien, wieder mehr von der Stimmung einzufangen, die Fleißer ursprünglich so wichtig war, die Brecht allerdings zugunsten politischer Handlungselemente kurz vor der Uraufführung streichen ließ. Eine Uraufführung übrigens, die als Theaterskandal Marieluise Fleißer schwer belastet hat.
Geschickt sind die beiden Stücke verwoben, von Olga und Roelle wechselt es zu den Pionieren und zurück, organisch. Zu Beginn gelingt es auch noch, die Sehnsucht und das Verlangen von Olga (Marie-Luise Stockinger), Roelle (Jan Bülow), Berta (Lilith Häßle) und Alma (Dagna Litzenberger Vinet) anzudeuten, je länger dieser Abend jedoch dauert, desto grausamer, dunkler, brutaler wird es, leider.
Dieser Aspekt von Fleißers Stücken, der schonungslos die zwi
schenmenschlichen Machtverhältnisse ausleuchtet, kommt immer mehr zum Tragen. Wer im Vorteil ist, nutzt ihn aus, wer sich im Hintertreffen befindet, muss leiden. So geht das Roelle bei Olga, die ihn zunehmend verachtet, oder Alma und Berta mit ihren Soldatenliebschaften. „Der Druck geht immer nach unten“, sagt der Feldwebel und verrät damit das Grundprinzip der Beziehungsmechanik, die Fleißer in der viel zu engen Heimat durchbuchstabiert.
Ein gelungener Theaterabend? Für chronische Schwarzseher möglicherweise. Zur zerstörerischen Energie, mit der jeder und jede Einzelne nicht geizt, kommen Gewaltexplosionen, sobald Gruppen in Erscheinung treten. Die Bierzeltschunkelei „Schnaps, das war sein letztes Wort“, gemeinsam von allen geschmettert, klingt wie das Kampflied einer rasenden Horde. Wenn die Pioniere einen Ingolstädter zum Opfer bestimmen, um die Erniedrigung, die sie als Soldaten erfahren, weiterzugeben, wird es dämonisch, flackern die kollektiven Gewaltexzesse der Nazi-Diktatur auf. Dass zu Beginn und am Ende das katholische Glaubensbekenntnis gesprochen wird und Roelle behauptet, mit einem Engel in Kontakt zu stehen, nimmt die Religion ins Gewaltgeschehen mit hinein. Dort wartet nicht die Erlösung, sondern nur ein weiterer Unterdrückungsmechanismus.
Die Unterdrückung zum Beispiel der Sehnsucht in allen Figuren nach einem menschlicheren Leben gelingt in dieser Inszenierung zu gut. Spätestens zur Hälfte bietet diese Inszenierung einfach nur noch mehr vom Gleichen, also mehr vom Bösen und sucht die Dosis zu steigern, bis zum Schluss Berta von ihrem Pionier vergewaltigt wird.
Nicht nur das Publikum, auch das zum großen Teil junge Ensemble des Burgtheaters wird durch die Eindimensionalität des Geschehens unterfordert. In diesem Ingolstadt, in dieser Höllenwelt ist außer Bosheit und Misslingen nichts zu finden, es ist eine Bühnenwelt, mit der man schon vor dem Ende des Stücks nach knappen zweieinhalb Stunden fertig ist. Statt bis zum Schluss in dieser Inszenierung Widerstand gegen diese Entwicklung zu leisten, statt immer nach dem anderen, dem verdeckten und verschütteten Guten zu suchen, gibt sich dieser Abend in Salzburg geradezu rauschhaft der dunklen Seite des Menschen hin. Trotzdem langer Applaus und Bravorufe des Premierenpublikums.