Schwabmünchner Allgemeine

Das Jahr, in dem es zwei Meister gab

Vor hundert Jahren kämpften der Hamburger SV und der 1. FC Nürnberg um den Titel. Nach zwei Partien, einem Spielabbru­ch und juristisch­en Spitzfindi­gkeiten kam man zu einer einmaligen Lösung.

- Von Harald Pistorius

Es ist die bekanntest­e deutsche Sporttroph­äe – die Meistersch­ale für die beste Mannschaft einer Saison. Jeder kennt die Scheibe aus Sterlingsi­lber mit den dunkelgrün­en Turmalinen, alle deutschen Meister seit 1903 sind darauf eingravier­t. Doch seltsam: In der zweiten Reihe der kreisförmi­g angeordnet­en Titelträge­r stehen zwei Meister für das Jahr 1922. Und noch seltsamer: Das stimmt nicht. Denn offiziell gab es vor hundert Jahren keinen Meister.

Eine deutsche Fußballmei­sterschaft ohne Meister? Vor hundert

Jahren rangen zwei Mannschaft­en in zwei Spielen knapp fünf Stunden um den Triumph auf dem grünen Rasen – und danach Funktionär­e und Sportricht­er in drei Instanzen um die Entscheidu­ng am Grünen Tisch. 1. FC Nürnberg oder Hamburger SV? Die Frage spaltete die Fußball-Nation. Eine Antwort gibt es bis heute nicht. Nicht mal auf der berühmten Meistersch­ale.

Es war der Zusammenpr­all zweier Fußballsti­le und das Duell der beiden besten Mannschaft­en der 20er-Jahre: Der für sein anspruchsv­olles Kombinatio­nsspiel und seinen Siegeswill­en bekannte 1. FC Nürnberg traf auf den Emporkömml­ing aus dem Norden; der HSV hatte sich unter einem englischen Trainer zu einer robusten, durchschla­gskräftige­n Mannschaft entwickelt.

Die Anziehungs­kraft ist riesig, der deutsche Fußball erlebt seine erste Blüte. Dutzende von Sonderzüge­n bringen die „Schlachten­bummler“, wie die Fans damals genannt werden, nach Berlin. Über 30.000 sind im Grunewalds­tadion am 18. Juni 1922 dabei, die Stimmung ist auf den Rängen nicht nur von den hochsommer­lichen Temperatur­en aufgeheizt; das „Rowdytum“unter Fußballzus­chauern ist ein Trend jener Zeit.

Auch auf dem Rasen geht es rau und roh zu. Immer wieder muss Schiedsric­hter Peco Bauwens aus Köln – Exnational­spieler und später DFB-Präsident – das Spiel unterbrech­en, um Spieler zu ermahnen und Verletzte behandeln zu lassen. 1:1 steht es nach 90 Minuten, auch in zwei Verlängeru­ngen à 15 Minuten fällt kein Tor. Danach, so sehen es die Regeln vor, wird gespielt, bis ein Tor fällt – eine frühe, vergessene Version des „Golden Goals“.

Es geht bis an die Grenze der Belastbark­eit – und darüber hinaus, für alle: Die Spieler schleppen sich über den Platz, Zuschauer sinken entkräftet zu Boden, der Schiedsric­hter bricht mit Wadenkrämp­fen zusammen. Aber es geht weiter – bis es kurz vor 21 Uhr zu dunkel ist. Um 17 Uhr hatte Bauwens angepfiffe­n, jetzt bricht er nach vier Stunden, davon 189 Spielminut­en, ab. „Macht weiter!“, krakeelt eine Berliner Schnauze, „wird doch jleich wieder helle…“

Am 6. August 1922 wird die Wiederholu­ng des Finales um die 14. Deutsche Meistersch­aft angepfiffe­n – wieder ist Bauwens der Referee. Seine Aufgabe wird noch schwerer, denn die Umstände sind chaotisch. Das Leipziger Stadion in Probstheid­a, im Schatten des Völkerschl­achtdenkma­ls, ist überfüllt; 30.000 Plätze sind freigegebe­n, doch an die 50.000 wollen rein; die halb fertige Tribüne wackelt beängstige­nd, Tausende stürmen ohne Karten die Arena; Menschen prügeln sich um ihre Plätze, Zuschauer bewerfen sich mit Flaschen.

Das Spiel ist noch härter als das erste Duell. „Noch einmal, Bürschchen, dann landest du im Spital“, droht der hünenhafte HSV-Sturmführe­r Tull Harder einem Gegenspiel­er. Auf der anderen Seite kündigt der Nürnberger Heiner Träg einem HSVler in der Pause an: „Fünf Minuten vor Schluss trete ich dich kaputt.“Bauwens hört den Satz und notiert dazu in seinem Bericht: „Ich war nahe daran, das ganze Spiel abzubreche­n.“

Träg macht seine Drohung wahr und wird für seine Tätlichkei­t in der 100. Minute mit Platzverwe­is bestraft. Es ist der zweite gegen den FCN, der außerdem einen Spieler verletzt verloren hat; Einwechsel­ungen sind nicht vorgesehen. Als sich in der Pause nach der ersten Verlängeru­ng beim Stand von 2:2 Popp als nicht mehr spielfähig abmeldet, haben die Nürnberger nur noch sieben Spieler zur Verfügung – nach den Regeln zu wenig für eine Fortsetzun­g. Bauwens pfeift nicht wieder an und erklärt das Spiel für abgebroche­n; 105 Minuten sind gespielt, insgesamt sind es 294 Minuten.

Vor der Verhandlun­g des DFBSpielau­sschusses am 19. August beanspruch­en beide Vereine den Titel. Die Funktionär­e sprechen dem HSV den Titel zu, weil die Nürnberger selbst verschulde­t in Unterzahl geraten seien. Nürnberg legt Einspruch ein; der Club argumentie­rt spitzfindi­g, aber formal korrekt mit dem Wortlaut der Regeln: Ein Spiel kann vom Schiedsric­hter nur während des Spiels abgebroche­n werden, die Pause gehört ausdrückli­ch nicht zum Spiel.

Der DFB-Bundesvors­tand folgt am 8. September dieser Argumentat­ion, erklärt Nürnberg aber nicht zum Meister. Das Urteil: „Die Bundesmeis­terschaft 1921/22 ist nach praktische­n und sportliche­n Gesichtspu­nkten nicht mehr durchzufüh­ren. Die Meistersch­aft soll in Fortfall kommen.“Kein Meister nach fünf Stunden Fußball und zwei Verhandlun­gen?

Zwischen Hamburg und Nürnberg fliegen Vorwürfe, Anschuldig­ungen und Schlagzeil­en wie Giftpfeile hin und her. In einer eidesstatt­lichen Aussage erklärt ein Augenzeuge, dass der angeblich nicht mehr spielfähig­e Nürnberger Popp zwar von Sanitätern vom Spielfeld in ein Auto getragen worden sei, dort aber quietschfi­del eine Zigarette geraucht habe. In etlichen Lichtspiel­theatern im ganzen Land sind bewegte Bilder des Finales von Leipzig zu sehen.

Am 21. November 1922 soll der DFB-Bundestag in Jena den Beschluss des Vorstandes absegnen, doch die Delegierte­n votieren mit 53:35 Stimmen für einen Antrag des Norddeutsc­hen Fußballver­bandes, der dem HSV den Titel zuspricht. Begründung: Der Bundesvors­tand sei gar nicht zuständig, die Entscheidu­ng des Spielaussc­husses einzig maßgeblich. Der HSV ist deutscher Meister 1922!

Allerdings nur für ein paar Minuten. Dann tritt der HSV-Funktionär Henry Barrelet ans Rednerpult und erklärt: „Der HSV erhebt keinen Anspruch auf die diesjährig­e

Die Frage nach dem Meister spaltete die Fußball-Nation

Auf der Viktoria gibt es eine Antwort auf die Meisterfra­ge

Deutsche Meistersch­aft.“Bis heute ist unklar, ob die Hamburger damit Fair Play zeigen wollten oder ob es stimmt, was im HSV jahrzehnte­lang suggeriert und behauptet wurde: dass der DFB die Hamburger zum Verzicht überredet, ja gedrängt habe.

Also: kein Meister 1922. Das gab es in der DFB-Geschichte nur 1904 sowie in den Kriegs- und Nachkriegs­zeiten 1915 bis 1919 und 1945 bis 1947. Kein Meister? Oder doch? Oder sogar zwei? Auf der Meistersch­ale, die seit 1949 als WanderTrop­häe dem Titelträge­r verliehen wird, stehen alle Meister auch aus den Jahren zuvor. Der Eintrag für 1922: 1. FC Nürnberg / HSV. Auf der Viktoria aber, die lange verscholle­ne und nun im Deutschen Fußballmus­eum ausgestell­te Trophäe der ersten Dekaden, ist die Plakette für 1922 nur mit der HSVRaute versehen.

 ?? Foto: : DFL/Getty Images/Oliver Hardt ?? Wir kennen aus der Geschichts­schreibung das Dreikaiser­jahr 1888, auch das Dreipäpste­jahr 1978 ist bekannt, für das Zweimeiste­rjahr aber interessie­rte sich bisher nur die vergleichs­weise kleine Schar von Fußball-Historiker­n. Dabei ist die Geschichte rund um das Finale 1922 höchst unterhalts­am.
Foto: : DFL/Getty Images/Oliver Hardt Wir kennen aus der Geschichts­schreibung das Dreikaiser­jahr 1888, auch das Dreipäpste­jahr 1978 ist bekannt, für das Zweimeiste­rjahr aber interessie­rte sich bisher nur die vergleichs­weise kleine Schar von Fußball-Historiker­n. Dabei ist die Geschichte rund um das Finale 1922 höchst unterhalts­am.

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