Eugen Ruge: Metropol (5)
Charlotte holt sich das Buch, das sie für die Reise mitgenommen hat, aus der Kabine: Tscheljuskin von Tretjakow, ein Bericht über die heldenhafte Rettung der im Nordpolareis eingeschlossenen Besatzung des gleichnamigen Schiffs. Vor drei Jahren hatte das Drama begonnen; gerade war sie aus Deutschland in die Sowjetunion geflohen. Ein halbes Jahr lang hatte die ganze Sowjetunion die Fahrt, die Havarie und schließlich die Rettung der Besatzung verfolgt, und Charlotte erinnert sich noch gut daran, wie ihr bei der Radioübertragung vom triumphalen Empfang, den man den Geretteten und den Rettern in Moskau bereitete, die Tränen herunterliefen.
Sie setzt sich in einen der Liegestühle an Deck, aber der Wind erweist sich als überraschend kühl, sodass ihr, da sie keine Lust hat, noch einmal den langen Weg zu machen, um ihre Strickjacke zu holen, nichts anderes übrigbleibt, als ins Innere zu wechseln. Und da ist auf einmal Jilly! Hat das Frühstück verpasst und sich ein belegtes Brot am Buffet geholt.
Sie sieht verschlafen aus, noch kindlicher als sonst. Ihre Wangen sind rosig. Sie ist so jung, dass man sie für Charlottes Tochter halten könnte, auch wegen ihrer so ganz und gar unbritischen schwarzen Locken. Und tatsächlich glaubt Charlotte manchmal, sich selbst in ihr wiederzuerkennen, obgleich es ganz ungewiss ist, ob die beinahe noch babyhaften Pölsterchen, die Jilly umhüllen, mit der Zeit wegschmelzen oder anschwellen werden. Auch sind ihre Proportionen bei näherem Hinsehen nicht so ideal wie Charlottes, aber sie ist jung, schwindelerregend jung; und Charlotte kommt gerade in das Alter, da sie versteht, was Jugend bedeutet: nämlich gerade die Zeit, da man nicht versteht, was Jugend bedeutet. Sie ist gern in Jillys Nähe, kann nie genug davon kriegen. Sie hat sogar schon überlegt, ob sie zusammen mit Jilly in eines dieser kleinen Holzhäuser an der Moskauer Peripherie ziehen könnten, wenn ihre Zeit auf Punkt Zwei einmal enden sollte. Ob Kurt und Werner eifersüchtig wären? Nicht dass sie glaubte, ihre Söhne wollten mit ihr zusammenleben, jetzt, da sie erwachsen sind. Trotzdem könnten sie eifersüchtig sein: nachträglich.
Schon an dem scheuen Rundumblick, mit dem Jill prüft, ob Wilhelm in der Nähe ist, erkennt Charlotte, dass sie mit ihr reden will. Seit Tagen spürt sie, dass Jilly etwas auf dem Herzen hat. Meist geht es in solchen Fällen um kleine Zweifel, die die junge Kommunistin bewegen: warum es in sowjetischen Kantinen Zuteilungen gemäß „Leistung“gibt (dass also der Chef mehr Fleisch oder Gebäck bekommt als die Sekretärin). Oder wieso der legale Abbruch der Schwangerschaft in der Sowjetunion wieder abgeschafft wurde. Und tatsächlich ist das auch für Charlotte ein Schock gewesen; sie erinnert sich noch, wie sie diese Errungenschaft in der kommunistischen Frauengruppe Neukölln gepriesen hat.
Heute aber, stellt sich heraus, geht es um etwas anderes, genauer gesagt, um jemanden, nämlich um Müller, eigentlich Melnikow, den neuen Chef der OMS, jenes mächtigen Geheimdienstes, für den sie arbeiten. Dieser Mann, so behauptet Jilly, stelle ihr seit einigen Wochen nach.
Deshalb also hat Melnikow den Urlaub genehmigt? Der Gedanke ist zuerst da. Nicht weil er in sie, sondern weil er in Jill Greenwood verliebt ist? Und obwohl sie sich keineswegs wünscht, von diesem hohlwangigen, struppigen Mann mit Zuneigung belästigt zu werden, ist Charlotte ein kleines bisschen gekränkt. Sie spielt Erstaunen. Ungläubigkeit. Sie reißt die Augen auf, sie lehnt sich zurück, kopfschüttelnd. Aber sie ist wirklich erstaunt: Melnikow? Der Mann ist doch mindestens fünfundvierzig! Verheiratet, zwei Kinder … Ein Mann in dieser Position!
Jill beugt sich zu ihr hin und teilt ihr flüsternd die Details mit: Er habe jedes Mal, wenn er auf Punkt Zwei war, mit ihr gesprochen. Und weiter?
Er habe ihr eine Karte für den Komsomol-Kongress besorgt. Und weiter?
Er habe sich in die Hand versprechen lassen, dass sie ihm eine Postkarte aus dem Urlaub schreibt.
Das ist alles?
Ja, das ist alles. Aber sie habe so ein Gefühl… Kindchen! Charlotte ist wieder ganz in der gewohnten Rolle. Wenn du wüsstest, was verliebte Männer tun!
Aber Jill fängt wieder von vorn an, die Postkarte, der Jugendkongress… Charlotte ist schon nicht mehr bei der Sache. Jillys Aufruhr beginnt ihr auf die Nerven zu gehen, ja, sie ärgert sich sogar ein wenig darüber, dass das Mädchen sich allen Ernstes einbildet, Melnikow sei in sie verliebt. KomsomolKongress!
Jilly, ist dir schon mal aufgefallen, dass du die Jüngste bist auf Punkt Zwei? Wen soll er denn sonst zum Komsomol-Kongress schicken? Etwa Wilhelm?
Und erst als Jilly hell auflacht, wird Charlotte gewahr, wie komisch das wirklich ist. Wie komisch und traurig auch. Es rückt ihr ins Bewusstsein, wie alt Wilhelm geworden ist, denn eben war er noch jung, Jilly weiß es bloß nicht. Eben noch war er ein junger Rotfrontkämpfer in lederner Motorradkluft, mit einer BMW R 32.