Lesen lernen und Freude daran entwickeln
Manche Kinder können vor der Grundschule ihren Namen schreiben, andere bekommen nur selten vorgelesen. Wie die Zweitklässler in Untermeitingen für Buchstaben begeistert werden.
Flüssiges, sinnerfassendes Lesen: Was vielen Erwachsenen selbstverständlich erscheint, ist es für immer weniger Kinder. Direktorin Christiane Reismüller zitiert Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV): „Wir haben ganz viele Kinder, die nicht unbedingt der deutschen Sprache so mächtig sind“. Darunter zunehmend Kinder ohne Migrationshintergrund. Reismüller betont: „Lesen spielt in alle Lebensbereiche hinein und Bildung braucht Beständigkeit, Qualität, Muße und Zeit.“
Autorin und Illustratorin Nina Müller sagt: „Kinder in dem Alter haben normalerweise eine Aufmerksamkeitsspanne von rund zehn Minuten.“Eine Einschätzung, die Lehrerin Natalie Gawantka bestätigt. Deshalb setzt Müller auf eine multimediale Lesung. Maltafel, Beamer, Stereoanlage und Buch. Rund alle zehn Minuten wechselt sie das Medium, damit die Zweitklässler dabei bleiben. Müller sagt: „Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, Kinderbücher auch.“Deshalb sucht sie das Gespräch mit ihren kleinen Zuhörern und fragt auch nach dem Gefühl.
Autorin Nina Müller fragt: „Habt ihr schon mal einen Fisch angefasst, und wie hat der sich angefühlt?“„Eklig und glitschig“, sagen die Kinder aus dem Publikum. Es ist die erste Autorenlesung für die Zweitklässler von Lehrerin Natalie Gawantka aus Untermeitingen. Die Kinder sind aufgeregt und trotzdem folgen sie ihren Lehrerinnen wie die Entchen zu ihren Sitzplätzen. Müller erzählt vom Klimbim-Kliff und dem versunkenen Piratenschiff. Die Kinder lauschen. Leises Tuscheln ist zu hören. Als
Müller zum Zeichenstift greift, steht die hinterste Reihe auf. Desinteresse? Fehlanzeige. Die Kinder möchten besser sehen, welchen ihrer Bücherhelden Müller gerade malt. Kuschelflosse, Kofferfisch, Schwimmerdbeere Emmi oder das bebrillte Seepferdchen Sebi. Plötzlich erfüllt eine fremde Stimme den Raum. Kuschelflosse erfährt aus dem Radio von einem Gespenst im Piratenschiff.
Die Kinder aus Natalie Gawantkas Klasse kennen Kuschelflosse und seine Freunde schon. Ihre Lehrerin hat ihnen ein wenig im Unterricht vorgelesen, sagt die achtjährige Emma. Sie mag Schwimmerdbeere Emmi am liebsten, „weil sie fast wie ich heißt und ich Erdbeeren mag“. Florian mag besonders
Sebi: „Er liest so gerne und der Name ist lustig.“Eine Wortschöpfung von Nina Müller aus Seepferdchen und Brille.
Müller pflegt eine einfache Sprache in ihren Kinderbüchern. Komplizierte Wörter stoppten den Lesefluss, sagt sie. Insbesondere, wenn es keine Erklärung im Text gebe. Der Vorleser oder die Vorleserin müsse dann die Bedeutung klarstellen, erläutert Müller. Das lenke ab. Schon sei das Interesse an der Geschichte verflogen. Deshalb hat Müller mit dem Schreiben von Kinderbüchern angefangen, als ihr Sohn in der Grundschule war. „Er war meine Zielgruppe und mein Testleser“, sagt sie. Für ihn hat sie die U-Blubber-Bahn erfunden. Nach einer Dreiviertelstunde lässt
Müller die Lesung ausklingen, ohne das Ende zu verraten.
Das offene Ende stört die achtjährige Theresa nicht: „Das ist schön. Man kann sich ausdenken, wie es weitergeht, oder es nachlesen“, meint sie. Sie möchte das Buch am liebsten gleich geschenkt haben. Florian sagt: „Es gibt so Wunschzettel in der Bücherei, da trage ich das ein.“Und Emma setzt noch eins drauf: „Ich möchte jetzt ganz viel von Kuschelflosse lesen.“Die Idee der Untermeitinger Direktorin Christiane Reismüller war es, den Leseunterricht außerhalb des Klassenraums fortzusetzen: „Wenn ich viel ausprobiere, bilden sich Interessen heraus.“Zum Beispiel ein Faible fürs Lesen.
Direktorin Reismüller setzt nicht nur auf eine Lesung, sondern ihre Schüler lernen das Lesen auf vielfältige Weise. Eine Woche zuvor sitzen die Schulkinder der zweiten Klasse von Natalie Gawantka auf dem Teppich in Grüppchen zusammen. Sie üben lesen. Nichts erinnert an den Frontalunterricht von früher. Am Anfang der Stunde kommen alle Schüler für eine Viertelstunde in einem Sitzkreis zusammen, sagt Lehrerin Gawantka. Sie erklärt die Leseübung. Heute: Kreislesen. Jede Gruppe bekommt einen kurzen Text mit Stolperwörtern. Die gar nicht in die Geschichte passen. Außerdem gibt es Bilder und eine Art bunte RouletteScheibe, wie aus dem „Spiel des Lebens“. Emma sagt: „Ich musste heute zweimal den Text lesen.“Sauer ist sie nicht. Der Zufall entscheidet, wer liest, das Bild beschreibt oder die Geschichte weiterspinnt.
Emma sitzt zusammen mit Theresa (beide acht Jahre) und dem siebenjährigen Florian in der Leseecke. Da ist „Lesen strengstens erlaubt“, sagt Florian. Er ist der Jüngste in der Klasse. Ihm gefällt an der Gruppenarbeit: „Dass es nicht darum geht, der Beste zu sein. Es reicht, besser als gestern zu sein.“Florian mag besonders das Blitzlesen. Dabei messen die Kinder mit einer Stoppuhr, wie viel sie beim Lesen schneller geworden sind, erklärt Theresa.
Lehrerin Gawantka sagt: „Die Kinder verbessern sich von Woche zu Woche.“Sie übt dreimal die Woche intensiv Lesen mit ihren Zweitklässlern. Sowohl die Wiederholung als auch die Konzentration spielten eine Rolle: Vor dem Lesen „die Musik abschalten“, damit es ruhig ist. Während des Lesens sollen die Kinder mit einem Lesestift mitgehen und danach überlegen, „was habe ich überhaupt gelesen“, sagt sie.